Blick in die Ewigkeit: Die faszinierende Nahtoderfahrung eines Neurochirurgen (German Edition)
Geschichte erzählen.
Ungefähr die nächsten sechs Wochen liefen meine Tage mehr oder weniger gleich ab. Ich wachte zwischen 2.00 und 2.30 Uhr morgens auf und fühlte mich – nur weil ich am Leben war – gleich so ekstatisch und energiegeladen, dass ich aus dem Bett sprang. Ich machte das Feuer im Kamin im Arbeitszimmer an, setzte mich in meinen alten Ledersessel und fing an zu schreiben. Ich versuchte, mich an jede Einzelheit meiner Reisen in das Zentrum und aus dem Zentrum hinaus zu erinnern und daran, was ich empfunden hatte, als ich die vielen, mein Leben verändernden Lektionen dabei lernte.
Versuchte ist allerdings nicht wirklich das richtige Wort. Die Erinnerungen waren klar und deutlich da, wo ich sie zurückgelassen hatte.
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Das Ultra-Reale
Man kann sich auf zwei Arten irren. Indem man glaubt, was nicht wahr ist. Oder indem man sich weigert zu glauben, was wahr ist.
Søren Kierkegaard (1813–1855)
In allen meinen Niederschriften tauchte ein Wort immer und immer wieder auf: real .
Vor meinem Koma war mir nie aufgefallen, wie trügerisch dieses Wort sein kann. Sowohl an der Medizinischen Hochschule als auch in der Schule des gesunden Men schenverstands, die man Leben nennt, war mir beige bracht worden, dass etwas entweder real ist (ein Autounfall, ein Football-Spiel, ein belegtes Brot auf dem Tisch vor einem) oder eben nicht. In meinen Jahren als Neurochirurg war ich vielen Menschen begegnet, die an Halluzinationen litten. Ich glaubte zu wissen, wie absolut erschreckend nicht reale Phänomene für diejenigen sein können, die sie erleben. Und in den wenigen Tagen meiner ICU-Psychose hatte ich selbst Gelegenheit, ein paar beeindruckend realistische Albträume zu erleben. Sobald sie jedoch vorüber waren, erkannte ich diese Albträume sehr schnell als die Wahnvorstellungen, die sie waren: vom Gehirn, das sich alle Mühe gab, seine Funktion wieder aufzunehmen, durch Verschaltungen erzeugte neuronale Trugbilder.
Während ich im Koma lag, hatte mein Gehirn aber nicht nur unzureichend gearbeitet. Es hatte überhaupt nicht gearbeitet. Der Teil meines Gehirns, der, wie ich in den Jahren an der Medizinischen Hochschule gelernt hatte, für den inneren Aufbau der Welt verantwortlich war, in der ich lebte und mich bewegte, und dafür, dass ich die Rohdaten, die über meine Sinnesorgane hereinkamen, zu einem sinn vollen Universum zusammensetzen konnte, dieser Teil mei nes Gehirns war am Ende. Und dennoch war ich am Leben und bei Bewusstsein, wirklich bei Bewusstsein in einem Universum, das vor allem von Liebe, Bewusstheit und Realität geprägt war. (Da war es wieder, dieses Wort.) Diese Tatsache war für mich einfach unbestreitbar. Ich wusste es so unzweifelhaft, dass es wehtat.
Was ich erlebt hatte, war realer als das Haus, in dem ich saß, oder die Holzscheite, die im Kamin brannten. Doch das medizinisch-wissenschaftlich geprägte Weltbild, für dessen Erwerb ich viele Jahre gebraucht hatte, ließ keinen Platz für diese Realität.
Wie konnte ich genug Raum schaffen, sodass diese beiden Realitäten koexistieren konnten?
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Eine häufig gemachte Erfahrung
Endlich kam der Tag, an dem ich alles niedergeschrieben hatte, was ich konnte, auch die letzten Erinnerungen an das Reich der Regenwurmperspektive, den Übergang und das Zentrum.
Dann war es an der Zeit zu lesen. Ich stürzte mich in das Meer der Literatur über Nahtoderlebnisse – ein Meer, in das ich vorher noch nicht einmal einen Zeh getaucht hatte. Ich brauchte nicht lange, um zu erkennen, dass zahllose andere Menschen die gleichen Dinge erlebt hatten wie ich, und zwar sowohl in den letzten Jahren als auch in früheren Jahrhunderten. Die Nahtoderlebnisse sind nicht alle gleich. Jedes ist einzigartig, aber immer und immer wieder tauchen dieselben Elemente auf, und viele davon kannte ich aus meiner eigenen Erfahrung. Die Berichte vom Gang durch einen dunklen Tunnel oder ein Tal in eine helle, lebendige, ultra-reale Landschaft sind so alt wie das antike Griechenland und Ägypten. Die Schilderung von Engelwesen – manchmal mit Flügeln, manchmal ohne – lassen sich mindestens bis in den alten Orient zurückverfolgen, und ebenso die Überzeugung, dass solche Wesen Wächter sind, die über die Aktivitäten der Menschen auf Erden wachen und sie empfangen, wenn sie die Erde hinter sich lassen. Das Gefühl, in alle Richtungen gleichzeitig sehen zu können und über der lineare Zeit zu stehen, ja, über allem, was für mich zuvor die Landschaft des
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