Blicke windwärts
Gewinn schlagen werden. Man hat uns gesagt, sie sind ehrenwerte Leute, von dem einzigen Wunsch beseelt zu helfen, die jetzt das Gefühl haben, aufgrund ihrer Unachtsamkeit in unserer Schuld zu stehen. Man hat uns gesagt, dass wir möglicherweise mehr von ihrem niederdrückenden Schuldgefühl profitieren können, als wenn wir auf ihre gönnerhafte Mildtätigkeit angewiesen gewesen wären.« Estodus Visquile setzte wieder sein dünnes, verzerrtes Lächeln auf. »Doch tatsächlich ist nichts davon von Bedeutung.«
Der Estodus und Quilan saßen allein in einem kleinen Turm, dessen Vorbau über den Rand einer der unteren Ebenen der Säule hinausragte. Luft und Meer zeigten sich an drei Seiten, und der warme Wind, befrachtet mit einem salzigen Geruch, wehte durch ein glasloses Fenster herein und durch ein anderes wieder hinaus. Sie saßen mit untergeschlagenen Beinen auf Grasmatten.
»Von Bedeutung ist jedoch«, fuhr der Alte fort, »was die Chelgri-Puen beschlossen haben.«
Es folgte eine Pause. Quilan vermutete, dass von ihm erwartet wurde, sie auszufüllen, deshalb sagte er: »Und was wäre das, Estodus?«
Dem Fell des Alten entströmte der Duft von teurem Parfüm. Er richtete sich auf, setzte sich auf seiner Matte zurecht und blickte durch das Fenster hinaus auf die langgestreckte Dünung des Meers. »Seit siebenundzwanzig Jahrhunderten ist es ein fester Bestandteil unseres Glaubens«, erklärte er in beiläufigem Ton, »dass die Seelen der Dahingegangenen ein ganzes Jahr lang im Limbo behalten werden, bevor sie in die Großartigkeit des Himmels aufgenommen werden. Das hat sich nicht verändert, seit wir – unsere Vorfahren – den Himmel Wirklichkeit haben werden lassen. Ebenso wenig wie viele der anderen Doktrinen, die mit diesen Dingen zu tun haben. Sie sind in gewissem Sinne Gesetz geworden.« Er lächelte Quilan erneut an, bevor er wieder zum Fenster hinausblickte.
»Was ich Ihnen sagen werde, wissen nur sehr wenige Leute, Major Quilan. Und so muss es auch bleiben, verstehen Sie?«
»Ja, Estodus.«
»Die Generalin Ghejaline weiß es nicht, und auch keiner von Ihren Lehrern.«
»Ich verstehe.«
Der Alte wandte sich ihm unvermittelt zu. »Warum möchten Sie sterben, Quilan?«
Er schaukelte nach hinten, aus der Fassung gebracht. »Ich… eigentlich möchte ich es gar nicht, Estodus. Ich möchte nur nicht besonders gern leben. Ich will einfach nicht mehr… sein.«
»Sie möchten sterben, weil Ihre Gefährtin tot ist und Sie immer noch an ihr hängen, stimmt’s?«
»Ich möchte es etwas stärker ausdrücken, als dass ich nur an ihr hänge, Estodus. Durch ihren Tod hat mein Leben seinen Sinn verloren.«
»Ihre Familie und Ihre Gesellschaft in dieser Zeit der Bedürftigkeit und Neugestaltung bedeuten Ihnen also gar nichts?«
»›Gar nichts‹ stimmt nicht, Estodus. Aber nicht genug, keines von beidem. Ich wünschte, ich könnte anders empfinden, aber ich kann es nicht. Es ist so, als ob alle Leute, an denen mir etwas liegt – wobei ich das Gefühl habe, dass mir noch viel mehr an ihnen liegen sollte –, bereits in einer anderen Welt sind als der, die ich bewohne.«
»Sie ist nur eine Frau, Quilan, nur eine Person, ein einzelnes Individuum. Was macht sie zu etwas so Besonderem, dass die Erinnerung an sie – anscheinend bis in alle Ewigkeit unauslöschlich – die drängenderen Bedürfnisse der noch Lebenden, für die noch etwas getan werden kann, überwiegt?«
»Nichts, Estodus. Es ist…«
»Nichts, so ist es in der Tat. Es ist nicht ihre wirkliche Besonderheit oder Einzigartigkeit, die Sie verherrlichen, Quilan, sondern Ihre Erinnerung daran. Sie sind ein Romantiker, Quilan. Sie finden die Vorstellung des tragischen Todes romantisch, Sie finden die Vorstellung, wieder mit ihr vereint zu sein – selbst wenn das bedeutet, sich ihr in der Vergessenheit zuzugesellen – romantisch.« Der Alte richtete sich ruckartig auf, als ob er sich anschickte zu gehen. »Ich hasse Romantiker, Quilan. Sie kennen sich selbst nicht richtig, aber was noch schlimmer ist, sie wollen sich selbst gar nicht richtig kennen – oder, letztendlich, irgendjemanden sonst –, weil sie sich einbilden, das würde dem Leben das Geheimnisvolle nehmen. Sie sind Narren. Sie sind ein Narr. Wahrscheinlich war Ihre Frau ebenfalls eine Närrin.« Er hielt kurz inne, bevor er fortfuhr. »Wahrscheinlich waren Sie beide romantische Narren. Narren, die zu einem Leben der Desillusionierung und Verbitterung verdammt waren, als Sie
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