Bliefe von dlüben: Der China-Crashkurs (German Edition)
Abwechslung halber gab ich mich im öden Singapur bisweilen dieser auch nicht gerade schillernden Vergnügung hin. Jasper brauchte eine geschlagene Stunde, um mich zu finden. Anschließend wollten wir noch eine junge Frau einsammeln. Sie stand, so hatte sie per Handy durchgegeben, am Clifford Pier, einer der wenigen historischen Sehenswürdigkeiten in der Innenstadt, die die Kahlschlagsanierung der letzten fünfzig Jahre auf wundersame Weise überstanden hat. Jasper hatte trotzdem keine Ahnung, wo es zu finden war. Nachdem er sich x-mal verfahren hatte, gelang es ihm nur mit meiner Hilfe, die Dame schließlich ausfindig zu machen. Dazu muss man wissen: Die gesamte Insel Singapur ist wirklich winzig. Von Ost nach West misst sie maximal zweiundvierzig Kilometer, von Nord nach Süd sind es ungefähr fünfundzwanzig. Und die eigentliche Innenstadt ist so überschaubar wie beispielsweise Bielefeld. Trotzdem kannte sich hier ein Armeeoffizier nicht aus, zu dessen vornehmlichen Aufgaben es doch gehört, sich in einem beliebigen Gelände zu orientieren. Da stellt sich allerdings die Frage, wie man mit einer Armee, die aus solchen Leuten besteht, überhaupt ein Land verteidigen will?
Glücklicherweise hat sich Singapur in den wenigen Jahren seiner Selbständigkeit noch nie im Krieg befunden. Anders ist das mit China, das vor 1949 eine lange Phase der kriegerischen Auseinandersetzungen erlebte. In dieser Zeit konnte man sehr schön beobachten, wie sich chinesisches Militär verhält, wenn es sich in einer unbekannten Umgebung befindet. Der Lange Marsch von 1935 bis 1936, auf dem die Rote Armee unter Mao Tse-tung den nationalistischen Truppen Chiang Kai-sheks entkam, gilt bis heute zu Recht als eine der großartigsten strategischen Leistungen der Militärgeschichte. Doch sieht man sich die Marschroute der Roten Armee auf der Karte einmal genauer an, wird man schnell entdecken, dass Maos Truppen immer wieder in Spiralen oder gar im Kreis marschierten. Viele Militärhistoriker meinen, man habe so die Truppen der Nationalisten in die Irre führen wollen. Die jüngste, ziemlich schlechte Mao-Biographie von Jung Chang und Jon Halliday unterstellt sogar, Mao hätte seine Truppen absichtlich einen Umweg von zweitausend Kilometern machen lassen, um sich unterwegs seiner innerparteilichen Widersacher besser entledigen zu können. Was aber wäre, wenn sich die Rote Armee einfach in den unübersichtlichen Bergen Guizhous oder Sichuans verlaufen hätte?
Bleibt die Frage: Wer ist schuld, dass die Chinesen nie so genau wissen, wo sie sind? Ein fehlendes Gen, der schlimme Smog oder – im Westen immer wieder gern genommen – die kommunistische Partei? Ich glaube: Es liegt an der unendlich großen Menge an chinesischen Schriftzeichen, von denen man bis heute noch nicht einmal weiß, wie viele es überhaupt gibt. Das Kangxi-Wörterbuch von 1716 verzeichnet zwar genau 46 964, doch aktuelle Internetseiten wie chineseculture.about. com meinen, man müsse inzwischen von achtzigtausend ausgehen. Allgemein wird zwar behauptet, man käme mit nur dreitausendfünfhundert Zeichen aus, um eine Zeitung zu lesen. Aber selbst wenn man immerhin ein Zeichen pro Tag behält, braucht man zehn Jahre seines Lebens, um die dreitausendfünfhundert Zeitungszeichen zu speichern. Chinesische Kinder büffeln jedoch täglich viel mehr dieser komplizierten Hieroglyphen. Da bleibt im Kopf kein Platz für Kartographie, Geographie und Wissen, wo es langgeht.
Letztlich kann sich also in China nur jemand orientieren, der hier zu Hause ist, aber keine oder kaum Zeichen lesen kann. Und wer wäre das? Ich natürlich. Darum bin ich auch einer der wenigen, die Ihnen in Peking ganz präzise Ortsauskünfte geben können. Von meiner Wohnung zum Sommerpalast? Nichts einfacher als das! Erst mal ganz lange nach links, dann nach rechts oben, zwischendurch wieder nach links, aber das Abbiegen nicht vergessen. Und dann immer der langen Nase nach.
9 Mäuse lieben Reis
Es gibt wohl wenige Leute auf dieser Erde, die Musik so sehr lieben wie die Chinesen. Man singt mitten auf der Straße vor sich hin, man summt in Fahrstühlen oder nimmt kleine Radios mit zum Wandern, um auch in der Natur Musikuntermalung zu haben. In den Parkanlagen der großen Städte versammeln sich fast täglich die Alten, um begleitet von kleinen Kapellen zu singen. Meistens interpretieren sie alte kantonesische Schlager oder Lieder, die die Landschaften Chinas, den Kommunismus oder den Vorsitzenden Mao
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