Blinde Angst
hatte, waren teilweise so erschreckend, dass Sherry sie tief in ihrem Inneren verschlossen hielt – peinlich darauf bedacht, sie nicht an die Oberfläche zu lassen.
Sie griff über den Tisch und strich mit den Fingern über die kalte Haut der Hüfte des Mädchens. Schließlich fand sie einen Daumen, nahm die Hand in die ihre und drückte sie, so wie Carol Bishop im Warteraum ihre Hand gedrückt hatte.
Sie wartete einige Augenblicke ...
... ein Schwarzer in mittleren Jahren. Er sitzt mit überkreuzten Beinen auf dem Boden, ein Maschinengewehr auf dem Schoß. Er trägt ein schmutziges schwarzes T-Shirt und grinst, einen Goldzahn im Mund; sie sieht funkelnde Lichter vor sich, streckt die Arme aus, um nach ihnen zu greifen, ein warmer Wind weht ihr ins Gesicht; sie sitzt vor einer Torte voller Kerzen, eine Frau steht hinter ihr, die Hand auf ihrer Schulter; eine schwarze Katze, auf dem Bett zusammengerollt; ein anderer Schwarzer steht vor ihr, er hat ein braunes Auge und ein weißes, das ohne Leben ist; eine dunkelhaarige weiße Frau, sie ist hager, die Haare hängen zerzaust auf die Schultern herab. Sie hat eine Tätowierung im Gesicht, einen grinsenden Totenkopf mit Zylinder; dann eine Frau mit olivbrauner Haut, sie trägt eine weiße Bluse und eine Caprihose; ein Van, er ist rosa und voller Kleider; die Türme eines alten Gebäudes, eine Art Schloss ... mitten im Wald ...
Sherry ließ die Hand los und zuckte auf ihrem Platz zurück. »O mein Gott«, flüsterte sie.
Sie legte ihre Hände auf die Knie, beugte sich vor und atmete tief durch, das Bild des Schlosses immer noch im Kopf. Sie war dort, Jill Bishop war dort. Das war das Gebäude. Dort hatte auch Sergio Mendoza diese Frau in dem roten Raum gesehen.
Sherry wusste, dass da noch mehr sein musste, dass es noch mehr in Jill Bishops Gedanken zu sehen gab. Zum ersten Mal in ihrem Leben wollte sie nicht weitermachen. Sie hatte Angst vor dem, was noch vor ihr lag.
Minuten vergingen; ihr Herzschlag begann sich allmählich zu beruhigen, bis sie schließlich ganz langsam nach Jill Bishops Hand griff. Und sie nahm sie erneut...
... in einer Bar mit einer hübschen jungen Frau, rosafarbene Drinks mit Plastikpalmen, ein glänzendes weißes Schiff, eine Frau mit sandfarbenem Haar in einer Hängematte; strahlendes Sonnenlicht, der Schwarze mit dem Goldzahn zeigt mit dem Maschinengewehr auf sie, sie sieht den blauen Himmel hinter ihm, sie sind in einem Flugzeug; sie steht auf, sie geht auf den Mann zu, sie tritt ins Licht hinaus und greift nach dem blendenden grünen Glitzern, da ist etwas kleines Weißes, ein Boot, das auf den Wellen schaukelt, es kommt schnell näher...
20
Kingston, Jamaika
Carol Bishop verbrachte eine letzte Stunde mit ihrer Tochter, sie saß auf demselben schlichten Holzsessel und hielt dieselbe kalte Hand wie Sherry zuvor. Sie weinte, bis keine Tränen mehr kamen.
Sie hatte über die Dinge nachgedacht, die Sherry ihr berichtet hatte.
Es war einfach unglaublich, dass ihre Tochter freiwillig aus einem Flugzeug gesprungen sein sollte. Die Frage war, was diese Männer ihr angetan hatten, dass sie sterben wollte? Zu welch abscheulichen Dingen hatten sie sie gezwungen, dass sie es keinen Tag länger aushalten konnte?
Carol legte den Kopf in ihre Hände und grub die Fingernägel in die weiche Haut an den Schläfen. Sie stöhnte auf vor Schmerz, und das Stöhnen wurde zu einem wütenden Knurren.
Sie fragte sich, was Sherry Moore mit dem, was sie von ihrer Tochter erfahren hatte, anfangen konnte. Für das FBI waren Sherrys Behauptungen jedenfalls irrelevant. Niemand würde versuchen, die Männer zu finden, die ihre Tochter gesehen hatte, oder das dunkelhaarige Mädchen, das genauso tätowiert war wie Jill. Und was war mit dem Schloss mitten im Wald? Die Bishops hatten mit ihren Kindern schon die ganze Welt bereist. Carol konnte sich nicht erinnern, so einen Ort schon einmal gesehen zu haben. Gewiss wäre ihr ein solches Gebäude in Erinnerung geblieben -also musste es etwas sein, was Jill nach ihrer Entführung gesehen hatte.
Sherry Moore und der Inspektor wussten mehr, als sie ihr sagten. Carol war sich sicher, dass das der Grund war, warum sie Sherry hergebracht hatten. Sie wussten etwas über diese Tätowierung, aber da war noch etwas – etwas, das Carol noch mehr beunruhigte. Sherry wirkte verändert, als sie in den Warteraum zurückkam. Irgendetwas war passiert, als sie bei ihrer Tochter war. Sherry Moore hatte mehr gesehen, als sie
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