Blinde Angst
ich vielleicht einen Arzt rufen? Damit er Ihnen etwas gibt?«
Carol presste die Hände fest zusammen und wippte auf ihrem Sessel vor und zurück. »Jetzt«, sagte sie. »Bitte sagen Sie mir jetzt, was Sie wissen.«
»Ihre Tochter ist nicht durch Schläge gestorben, Mrs. Bishop. Und es war auch nicht so, dass man sie gefunden hat, wie sie im Wasser trieb, wie man es in den Nachrichten gehört hat. Jemand hat gesehen, wie sie vor der Küste von Jamaika aus einem Flugzeug fiel. Inspektor George selbst hat gesehen, wie Ihre Tochter starb.«
Carol Bishop stieß einen Laut hervor, wie Sherry ihn noch nie gehört hatte – es war wie der Schrei eines Tieres, ein Schrei, in dem ihr ganzer Schmerz hervorbrach.
Carol versuchte aufzustehen, doch sie krümmte sich, als hätte sie einen Faustschlag in den Solarplexus bekommen. Sie sank auf die Knie.
»Mrs. Bishop!« Sherry sprang auf, um ihr zu helfen. »Mrs. Bishop, sind Sie okay?« Sie versuchte ihre Arme um die Frau zu legen, doch Carol stöhnte laut auf, und Sherry hörte, wie sie zu Boden fiel. Sherry legte sich neben sie und wiegte sie in den Armen.
Sie wusste, dass Carol Bishop erst verdauen musste, was sie soeben gehört hatte. Bestimmt kamen ihr alle möglichen Bilder in den Sinn, und ihr wurde klar, warum der Körper ihrer Tochter so entstellt war.
»Verstehen Sie jetzt, Mrs. Bishop, warum ich Ihnen vielleicht nicht helfen kann?«
Carol brauchte eine volle Minute, bis sie schließlich nickte. Sie war immer noch nicht imstande, sich in Worten auszudrücken. Die Laute, die sie hervorbrachte, waren kaum zu verstehen.
Sherry wartete. Sie wartete, bis Carol sich ihr schließlich zuwandte und sie den schalen heißen Atem der Frau spürte, als ihr Gesicht näher kam.
»Bitte, gehen Sie zu meiner Tochter. Bitte.«
»Mrs. Bishop ...« Doch dann hielt sie inne. Die Frau hatte recht. Schließlich war sie deswegen hergekommen, und es gab keinen guten Grund, ihr den Wunsch abzuschlagen.
»Ich mache es«, sagte Sherry. »Ich mache es, Mrs. Bishop.«
Sherry half der Frau, vom Boden aufzustehen und sich zu setzen. Sie klopfte an die Tür, und der Inspektor kam herein. Er sah Carol Bishop an und dachte sich, dass sie wohl unter Schock stand.
»Ich würde jetzt zu Mrs. Bishops Tochter gehen«, sagte Sherry. »Können Sie mich hinbringen, während Mr. Brig-ham sich um Mrs. Bishop kümmert?«
Der Inspektor zögerte. »Mrs. Bishop?«
»Ja«, antwortete sie. »Bringen Sie sie bitte zu meiner Tochter.«
»Selbstverständlich«, sagte er.
Sherry wusste, was Brigham denken würde. Dass sie schleunigst verschwinden sollten, bevor die Sache ganz andere Ausmaße annahm. Inspektor George konnte kaum lügen, wenn das FBI ihn fragte, wer bei der Leiche gewesen sei, bevor sie sie untersuchten. Aber man durfte diese Frau nicht ohne eine Antwort gehen lassen. Für Carol Bishop war es das Schlimmste, nicht zu wissen, was mit ihrer Tochter geschehen war.
»Hier entlang, Miss Moore.«
Der Inspektor führte Sherry den Gang hinunter, öffnete Türen und führte sie schließlich in einen Raum.
»Es geht ihr nicht gut«, bemerkte der Inspektor.
»Es wird ihr noch länger nicht gut gehen«, fügte Sherry hinzu und schüttelte den Kopf.
»Kann ich noch irgendetwas tun, um Sie vorzubereiten?«
»Ich brauche nur einen Sessel«, antwortete Sherry. »Ich setze mich zu ihr.«
»Einen Moment«, sagte er, ging weg und kam nach wenigen Sekunden mit einem schlichten Holzsessel zurück.
»Soll ich bei Ihnen bleiben?«, fragte der Inspektor.
Sherry schüttelte den Kopf. »Ich komme gut allein zurecht.«
»Dann warte ich draußen«, sagte er und ging hinaus.
Als er die Tür geschlossen hatte, tastete Sherry nach der Tischkante und setzte sich. Es war ein Stahltisch, die Leiche lag auf der Höhe ihres Gesichts.
Sie saß einige Augenblicke still da, um ihren Kopf zu klären. Sie hörte immer noch Carol Bishops Schmerzensschrei von vorhin; das war etwas, was man nicht vergaß. Nie mehr.
Auch wenn sie inzwischen in vielen Leichenhäusern gewesen war und an vielen Autopsietischen gesessen hatte -es war doch immer anders. Bei jeder Hand, nach der sie griff, hatte sie das Gefühl, als täte sie das zum ersten Mal. Sie alle hatten einen Platz in ihrem Bewusstsein und riefen ganz bestimmte Erinnerungen in ihr wach – der kleine Junge in Luray, Virginia, das kleine Mädchen in Norwalk, Connecticut. Ihre Hände waren so unterschiedlich wie ihre Gesichter. Und die Gedanken, in die sie Einblick bekommen
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