Blinde Flecken: Schwarz ermittelt
ist er erst im Knast zum Radikalen geworden?«
»Ja, wahrscheinlich.«
»Durch wen?«
Marco zuckte resigniert mit den Schultern. »Durch mich zum Beispiel. Aber nur in der ersten Zeit.«
»Linda Heintl war wie Sie eine
Deutschlandtreue
. Hat sie ihn auch beeinflusst?«
»Ja, sicher.« Er befeuchtete seine Lippen, die ganz trocken waren. Schwarz warf ihm eine Bierbüchse zu. Marco öffnete sie und trank gierig.
»Hat er mit Ihnen mal über Anschlagspläne gesprochen?«
»Nein. Also, davon weiß ich nichts.«
»Aber Sie wissen, wie er denkt.«
Marco starrte ihn mit zusammengepressten Lippen an. Schwarz wusste, dass er ihm jetzt Zeit lassen musste und den Druck nicht mehr erhöhen durfte.
Marco blickte sich um, als müsse er selbst hier vor Lauschern auf der Hut sein. »Haben Sie mal von der
Braunen Hilfe
gehört«, flüsterte er.
Schwarz unterdrückte mit Mühe ein Grinsen. Der Name klang zu albern. Er schüttelte den Kopf.
»Die haben früher die alten Nazis im Knast betreut, mit Büchern, Geld und ärztlicher Betreuung. Heute kümmernsie sich um die Kameraden … also, die Exkameraden. Ach, Scheiße, ich krieg das nicht aus meinem Kopf raus.« Er begann heiser zu schluchzen und schlug die Hände vors Gesicht. Loewi und Schwarz warteten, bis er sich einigermaßen beruhigt hatte.
»Ist diese
Braune Hilfe
mit Tim in Kontakt getreten?«, fragte Loewi.
»Ja, aber ich habe keine Ahnung, durch wen. Wir hatten nicht dieselben Kontakte im Knast, weil ich dort als Kfz-Mechaniker gearbeitet habe und Tim fürs Abi lernte. Wenn er Besuch bekommen hat, war ich auch nicht dabei.«
Schwarz gab noch nicht auf. »Sie haben doch sicher mal über politische Ziele gesprochen?«
»Ja, schon. Wir wollten zusammen was aufbauen.«
»Was denn, Herr Kessler?«
Marco wagte es offenbar kaum auszusprechen. »Wir wollten beim Aufbau vom
Vaterländischen Netzwerk
mitmachen.«
»Was soll das sein?«
»Wenn ich das sage, bringen die mich um.«
»Sie müssen ja keine Namen nennen. Was sind die Ziele dieses Netzwerks?«
»Deutschland wieder sauber zu machen.«
»Sauber?«
»Ja, die ganzen Sozialschmarotzer raushauen.«
»Leute, die Sozialleistungen in Anspruch nehmen?«
Er schüttelte den Kopf. »Die volksfremden Elemente.«
»Wer gehört da dazu?«
»Alle, die nicht germanischstämmig sind.«
»Juden zum Beispiel?«, schaltete Loewi sich ein.
Marco kaute nervös an seiner Nagelhaut. »Die Juden sind ein Sonderfall.«
»Warum?«
»Weil man die oft gar nicht richtig erkennt. Aber sie sind überall. Vor allem in den Schaltzentralen.«
»Wissen Sie, wie viele Juden in Deutschland leben, Marco?«, sagte Loewi.
»Keine Ahnung. Ein, zwei Millionen?«
»Zweihunderttausend. Ich bin einer von ihnen.«
Marco starrte den Anwalt ungläubig an. Da klopfte es an der Tür. Marcos Blick begann zu flackern. Schwarz guckte durch den Späher.
»Nicht aufmachen!«, bettelte Marco.
Es war der Hausmeister, der wissen wollte, ob ihnen der Wagen in der Einfahrt gehörte. Sein Akzent ließ tatsächlich auf eine Herkunft aus Exjugoslawien schließen.
»Wir wollten sowieso gerade gehen«, sagte Loewi. Er schärfte Marco ein, die Wohnung auf keinen Fall zu verlassen, und versprach, morgen wieder vorbeizuschauen.
Marco stand da wie ein Häufchen Elend. Er hob zum Abschied nur stumm die Hand und wendete sich ab. Sie hörten, wie er die Tür absperrte. Zwei Mal.
»Er denkt und fühlt wie einer von denen. Wieso will er aussteigen?«, fragte Schwarz auf dem Weg nach unten.
»Aus Angst.«
»Nicht aus Überzeugung?«
»Schwer zu sagen. Ich weiß nur, dass er panische Angst vor Tim Burger hat.«
»Warum?«
»Der muss ihn extrem unter Druck gesetzt und merkwürdige Dinge von ihm verlangt haben.«
Schwarz schaute den Anwalt fragend an.
»Angeblich wollte er, dass Marco sich vor seiner Entlassung einen Finger abtrennt.«
»Wie bitte?«
»Als Zeichen seiner Loyalität.«
25.
»Um eins am Zeitschriftenkiosk im Pasinger Bahnhof«, hatte Heiner gesagt.
»Kannst du mir nicht einfach deine Adresse verraten?«
»Nein.«
Schwarz war fünf Minuten zu früh da. Schülermassen strömten an ihm vorbei zur S-Bahn . Er wurde ein paarmal angerempelt und wartete vergeblich auf eine Entschuldigung. Er überlegte, ob er in diesem Alter höflicher gewesen war. Er wusste es nicht mehr. Doch. Er erinnerte sich, im Bus und in der S-Bahn ab und zu seinen Platz für ältere Leute geräumt zu haben. Sie hatten aber oft abgelehnt. Vermutlich waren sie damals
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