Blinde Flecken: Schwarz ermittelt
Luft bemerkt, wie betrunken er war. Er hatte überlegt, ob er besser mit der S-Bahn oder dem Taxi fahren sollte, und sich dafür entschieden, zu Fuß nach Hause zu gehen, auch wenn er dafür mehr als eine Stunde brauchen würde.
Der Wind hatte gedreht und kam jetzt aus Süden. Es war wärmer geworden und ein Hauch Italien lag in der Luft. Nach etwa fünfundzwanzig Minuten erreichte Schwarz die Friedenheimer Brücke.
Seine Gedanken kreisten ununterbrochen um dieselben Fragen. Wo war Marco Kessler? War die Gruppe im Besitz einer funktionierenden Handgranate, und vor allem, was hatte sie damit vor?
Er überquerte die Brücke und erreichte die Landsberger Straße.
Ich habe Tim Burger doch erlebt, ich habe ihm in die Augen gesehen, dachte er, da werde ich es wohl schaffen, mich in ihn hineinzuversetzen – auch wenn ich es zum Kotzen finde.
Also:
Ich bin ein Kamerad, ich bin ein Neonazi, ich habe die Waffe. Wie setze ich sie ein?
Er blieb an Cindys Wohnmobil stehen. Die Vorhänge waren zugezogen, und wenn er ganz genau hinsah, bewegtedas Fahrzeug sich leicht. Aber vielleicht spielte ihm auch nur seine Phantasie einen Streich.
Ich will ein sauberes Deutschland, ich hasse Ausländer, aber noch mehr die Juden. Ich habe eine Handgranate
.
Eine junge Hure rempelte ihn an. »He, du, wenn du mit dir selbst quatschen willst, bleib daheim!«
Schwarz starrte sie an. Er sah den Babyspeck, der aus ihrem goldenen Höschen quoll, den gepiercten Nabel, die dunklen Brustwarzen, die sich unter dem durchscheinenden Kunststoffpulli abzeichneten, die grellroten Lippen, den verlaufenen Lidstrich.
»Oder kommen wir ins Geschäft?«
Er schüttelte stumm den Kopf.
»Trau dich! Ich mach’s um fünfzig. Billiger als in Prag.«
Schwarz schüttelte den Kopf und ging weiter.
Ich bin ein Neonazi
, fing er wieder an.
Ich bin voller Hass, ich will meine Entschlossenheit demonstrieren, ich will angreifen, ich will zerstören. Was ?
»Scheiße!« Er blieb stehen. Warum sträubte sich alles in ihm? Für einen guten Ermittler durfte es keine Denkverbote geben.
Er stand ratlos da, und plötzlich wurde ihm bewusst, was für eine lächerliche Figur er war. Ein knapp fünfzigjähriger, leicht übergewichtiger Mann, der betrunken eine der hässlichsten Straßen Münchens entlanglief und sich dazu zwang, wie ein Neonazi zu denken.
Andere lagen jetzt mit ihren Ehefrauen oder Geliebten im Bett.
Ein Gefühl grenzenloser Einsamkeit überfiel ihn. Es gibt keinen Menschen, dachte er, zu dem ich jetzt gehen könnte. Bei Monika liegt Justus, Luisa würde sich von mir kontrolliert fühlen, und zu seiner Mutter darf ein Mann in meinem Alter nur zurückkehren, wenn er stirbt.
Warum lerne ich niemanden kennen, der genauso allein ist wie ich? Es gibt Tausende von Frauen in meinem Alter, die nicht zu hoffen wagen, dass noch mal einer auftaucht. Hinter jedem dritten von diesen dunklen Fenstern sitzt eine und starrt traurig auf die Straße.
Er winkte zum Wohnblock auf der anderen Straßenseite. »Hallo, hier bin ich.« Ein vorbeifahrendes Auto hupte, er zog schnell den Arm zurück und ging weiter.
Auf der Höhe des Steinway-Hauses griff Schwarz zum Handy. »Es ist hoffentlich noch nicht zu spät, Frau Hahn?«
»Ich kann sowieso nicht schlafen. Erst brauche ich Stunden zum Einschlafen, und dann bin ich nach zwei Stunden wieder wach.«
»Vielleicht hätte Ihr Onkel besser nicht an der Geschichte rühren sollen?«
»Es war
mein
Wunsch, dass er etwas unternimmt.«
»Wirklich?«
»Wir haben viel zu lange den Kopf in den Sand gesteckt. Was wollen Sie denn, Herr Schwarz?«
Schwarz hüstelte. Sein Anliegen war ihm plötzlich peinlich.
»Ja?«
»Ich … Würden Sie mir noch mal so ein Klesmer-Lied vorspielen?«
»Finden Sie diese Musik nicht zu kitschig?«
»Eigentlich nicht.«
»Aber Sie müssen
Stopp
rufen, wenn es Ihnen nicht gefällt.«
»Mach ich.«
»Es dauert ein bisschen.«
Schwarz ging mit dem Handy am Ohr weiter.
»Das Lied heißt
Ba nacht
und erzählt von Menschen, die von schönen, unerreichbaren Dingen träumen. Ein armesKind von einem Butterbrot, ein Schwerkranker von einem gesunden Leben, ein alter Mann von Jugend und Vitalität.«
Schwarz hörte eine Gitarre, dann setzten eine Geige und eine klagende Frauenstimme ein. Er verstand nur einzelne Wörter.
›Jung un schtark‹
,
›Broit mit puter‹
und
›Sißn schlof‹
. Ich bin der alte Mann, dachte er, der von unerreichbaren Dingen träumt.
Und wenn ich getrunken habe,
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