Blinde Seele: Thriller (German Edition)
denn jetzt bereit, mit mir zu reden?«, fragte sie.
»Ich weiß nicht genau«, sagte Felicia.
»Das ist schon okay«, sagte Grace. »Wir werden dann ja sehen, wie es läuft, in Ordnung?«
Schweigen. Das einzige Geräusch im Zimmer war das leise Surren der Klimaanlage.
Grace versuchte ihr Glück.
»Ich möchte dich bitten, mir bei etwas zu helfen, Felicia. Aber wenn du nicht bereit dazu bist, ist das auch okay. Wir schaffen das schon.« Sie hielt einen Moment inne. »Ich weiß, dass du deine hübsche Brille nicht abnehmen willst …«
Sie sah, wie das Mädchen zusammenzuckte.
»Aber wenn du diese Brille aufhast«, fuhr sie fort, »kann ich nicht sehen, wie du dich fühlst.«
»Ich nehme die Brille nicht ab.«
»Darum bitte ich dich ja auch gar nicht«, sagte Grace. »Ich weiß, dass du ein Problem damit hast.«
»Ich will nicht darüber reden.« Felicias Stimme wurde lauter.
»Das musst du auch gar nicht. Erst wenn du bereit dazu bist.«
»Ich werde nie bereit dazu sein.«
»Ist schon okay«, sagte Grace besänftigend. »Aber wenn du so viel von deinem Gesicht hinter deiner Brille versteckst, stelle ich dir hin und wieder Fragen, wie du dich fühlst. Es könnte sein, dass diese Fragen ein bisschen dumm klingen.«
»Oh«, sagte Felicia. »Okay.«
»Ich habe das nur erwähnt, weil ich gern möchte, dass wir aufrichtig zueinander sind. Damit du weißt, dass ich von deinem Problem weiß.«
Grace machte eine angemessene Pause.
»Hier drinnen ist es ganz schön dunkel«, fuhr sie dann fort. »Hättest du was dagegen, wenn ich die Vorhänge aufziehe?«
Felicia gab keine Antwort.
»Ich würde mich dann besser fühlen, weißt du«, sagte Grace. »Ich tue mich bei einem ersten Treffen oft schwer, da könnte es mir helfen, wenn es ein bisschen heller im Zimmer ist.«
»Okay. Dann machen Sie die Vorhänge auf«, sagte das Mädchen.
»Danke.« Grace trat ans Fenster, fand eine Kordel, zog die Vorhänge auf, drehte sich um und ließ den Blick schweifen.
Das Zimmer war natürlich nicht Felicias Zuhause gewesen, aber es war kein unpersönliches Gästezimmer, sondern schien eher ein Ort zu sein, an dem sie in der Vergangenheit hin und wieder etwas Zeit verbracht hatte. Es gab keine Poster; die einzige Reminiszenz an Felicias Teenageralter war ein gerahmtes und signiertes Foto von dreien der Harry-Potter-Filmkinder. Bei einem raschen Blick auf die Bücherregale entdeckte Grace »Außergewöhnliche Hispano-Amerikaner«, eine Bibel und einen Roman von Mary Ingalls Wilder. Sie fragte sich, ob Felicia ihre dunkle Brille zum Lesen abnahm oder ob sie damit wartete, bis sie sicher war, dass niemand ins Zimmer platzte. Oder schloss sie gar die Tür ab?
Vielleicht nahm sie die Brille aber auch nie ab – für den Fall, dass sie an einem Spiegel vorbeikam und ihr eigenes Spiegelbild sah.
»Entschuldigung«, sagte Felicia. »Ich weiß, es ist nicht einfach mit mir.«
»Du musst dich für gar nichts entschuldigen«, erwiderte Grace. »Du hast Schreckliches durchgemacht, und du hast den schlimmsten Verlust erlitten, den es gibt. Ich wünschte, ich wüsste irgendeinen einfachen Weg, um dir rasch zu helfen, aber ich weiß keinen. Aber vielleicht können wir uns im Lauf der Zeit gegenseitig helfen, einen Weg zu finden, was meinst du?«
Felicias Mundwinkel hoben sich ein klein wenig. Es war zumindest die Andeutung eines Lächelns.
»Was ist?«, fragte Grace sanft.
»Ach, nichts.«
»Ich habe tatsächlich gedacht, du lächelst ein bisschen.«
»Ach ja? Das konnten Sie trotz meiner Brille sehen?«, erwiderte Felicia spöttisch.
Grace war nicht eingeschnappt, im Gegenteil: Eine große Klappe erschien ihr als willkommenes Anzeichen von Normalität.
»Ja, das konnte ich«, sagte sie. »Aber warum hast du gelächelt?«
»Weil Sie wie ein normaler Mensch reden.«
»Ich bin erleichtert, dass du mir das sagst.«
Es klopfte an der Tür, und Carlos Delgado schaute herein.
»Wie geht’s voran bei euch?«, fragte er.
Grace erkannte sofort und mit Bedauern, dass die kurze, im Entstehen befindliche Verbindung zu dem Mädchen abgerissen war.
»Gut«, sagte sie, den Blick noch immer auf Felicia gerichtet. »Auch wenn ich annehme, dass du für einen Tag vermutlich genug hast. Habe ich recht, Felicia?«
»Ich glaub schon«, sagte sie.
Grace erhob sich. »Hättest du was dagegen, wenn ich bald wiederkomme?«
»Wenn Sie wollen«, murmelte Felicia.
»Das würde ich gerne tun«, sagte Grace. »Sehr gerne.«
»Solange Sie nicht
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