Blinde Seele: Thriller (German Edition)
heften.
Das Licht nahm ab, und die Sonne verschwand langsam.
Keine Wolke war zu sehen. Der Himmel war völlig klar, und doch breitete sich rasch die Dunkelheit aus.
»Es ist nur eine Sonnenfinsternis«, sagte sich Mildred.
»Sieh nicht hin«, sagte Edith Bleeker, ihre Mutter. »Sonst wirst du blind.«
Aber Mildred wusste, dass es nichts zu befürchten gab. Immer weiter schob der Mond sich vor die Sonne, langsam, gravitätisch. Und was für ein Anblick es war, als schließlich die Korona erstrahlte, von der sie immer nur gelesen hatte. Es war ein wundervolles Licht inmitten der Schwärze – das Schönste, was Mildred je gesehen hatte, und es gab nichts, wovor man Angst haben musste, und sie würde einfach immer weiter hinschauen, bis …
»Mrs. Becket?«
Die Stimme weckte sie.
Die Helligkeit des Lichts, das vom Flur in ihr Zimmer fiel, ließ ihr rechtes Auge blinzeln.
Dr. Wiley sah nach ihr.
»Wie geht es meiner Lieblingspatientin?«, fragte er.
Was Mildred ärgerte, weil er sie aus ihrem wundervollen Traum gerissen hatte. Außerdem war sie ganz bestimmt nicht seine Lieblingspatientin.
»Ich habe geschlafen.«
»Das ist gut«, sagte Dr. Wiley. »Wie fühlen Sie sich?«
»Ich weiß nicht.«
»Keine Übelkeit?«
»Nein.«
»Was ist mit dem Auge?«
Das Auge war genau das, worüber sie nicht nachgedacht hatte, und das war das Schöne gewesen, auch wenn der Traum von der Sonnenfinsternis vielleicht ein Hinweis darauf war, dass ihre Ängste noch immer lebendig waren. Hätte man sie weiterträumen lassen, wäre es vielleicht zum Schlimmsten gekommen; dann wäre sie vielleicht erblindet. Dr. Wiley hatte ihr letztendlich vielleicht sogar einen Gefallen getan.
»Es fühlt sich gut an«, antwortete sie.
»Keine Schmerzen?«
»Ein leichtes Unbehagen, vorhin. Aber keine Schmerzen, und jetzt ist es gut.«
Der Arzt schloss leise die Tür, trat an ihr Bett und nahm ihre Hand, wodurch er Mildred im Halbdunkel ein bisschen erschreckte, da der Augenschutz ihr Sehvermögen einschränkte.
»Was tun Sie?«, fragte sie.
»Ich messe Ihren Puls.«
»Ich glaube, mit meinem Puls ist alles in Ordnung.«
»Reine Routine«, sagte der Arzt.
Mildred seufzte.
»Ich nehme an, Sie werden sich freuen, wieder nach Hause zu kommen«, sagte Wiley.
»Oh ja. Auch wenn ich im Augenblick lieber noch ein bisschen schlafen würde.«
»Ja, sicher. Ich bin gleich fertig.«
Im trüben Licht sah sie, wie er irgendetwas aus einer Tasche seines weißen Kittels nahm.
»Was denn jetzt?«, fragte sie ein wenig gereizt.
»Kein Grund zur Besorgnis.«
Jetzt klang er fast wie Ethan Adams, wenn er am unerträglichsten war.
Er hielt einen Augenspiegel in der Hand und beugte sich vor.
»Was tun Sie da?«, fragte Mildred erschrocken.
»Ich sehe mir nur rasch das andere Auge an.«
»Dr. Adams hat gesagt, ich würde heute Nacht hierbleiben, um mich zu erholen. Er hat gesagt, er kommt morgen früh, um sich mein Auge anzusehen.«
»Versuchen Sie bitte, ganz ruhig zu liegen, Mrs. Becket«, sagte Dr. Wiley.
Auf einmal war Mildred zu angespannt, um sich zu widersetzen, und lag ganz starr da.
Dann verschwand das helle Licht, und sie blinzelte.
»Und jetzt werden wir uns noch rasch das hier ansehen«, sagte Wiley.
Vielleicht, dachte Mildred, ist das hier ein anderer Traum. Wenn ja, ist es vermutlich an der Zeit, dass ich aufwache …
Der Arzt legte ihr beide Hände um den Hinterkopf. Ihr wurde bewusst, dass er nach dem Gummiband tastete, mit dem der Augenschutz befestigt war.
»Ich glaube nicht, dass Sie das tun sollten, Doktor.« Auf einmal war Mildred beunruhigt. »Man hat mir gesagt, dass ich das nicht anfassen soll.«
»Wer ist hier der Arzt?«, entgegnete George Wiley.
Kein Traum, das wusste sie jetzt, und doch war das, was hier geschah, seltsam unangenehm.
»Bitte«, sagte Mildred, »binden Sie ihn wieder fest.«
»Seien Sie nicht albern. Es ist nur zu Ihrem Besten.«
Sein Tonfall gefiel ihr überhaupt nicht. Außerdem – was war nur zu ihrem Besten? Sie wünschte sich, David würde wiederkommen. Hätte sie ihn doch nur nicht gedrängt, essen zu gehen!
Der Augenschutz war jetzt verschwunden. Mildreds Auge fühlte sich nackt und verletzlich an.
»Bitte, Dr. Wiley, binden Sie mir den Augenschutz wieder um.«
»Na, na, na«, sagte der Arzt.
Er beugte sich wieder näher an sie heran, legte einen Finger der linken Hand auf ihre Augenbraue und den Daumen an ihre Wange und drückte ihr frisch operiertes Auge auf.
»Was tun Sie denn
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