Blinde Wahrheit
etwas wie einen morgendlichen Berufsverkehr gab, so hatte der sich bereits wieder aufgelöst. Die heiße Spätsommersonne brannte ihm auf den Hinterkopf, als er aus seinem Pick-up stieg und auf das Büro des Sheriffs zuhielt.
Es war in einem schlichten, gedrungenen Gebäude aus grauem Backstein untergebracht und befand sich gegenüber des Rathauses. Ein optimistischer Mensch hatte rote, weiße und blaue Blumen davorgepflanzt, in der Hoffnung, den Anblick etwas hübscher zu gestalten.
Doch es half nicht viel.
Das Gebäude wirkte nach wie vor genauso trostlos.
Ein derartiges Haus konnte nichts verschönern. In Kleinstädten mochte es vielleicht noch ein bisschen was anderes sein, aber im Grunde glich eine Polizeiwache der anderen. Es war halt eine Bude voller Bullen, mit hier und da einem Anwalt dazwischen. Großer Gott, sogar der Geruch war überall der gleiche.
An diesem Tag gab es mehr Andrang als beim Mal zuvor. Direkt hinter der Eingangstür lümmelte ein Jugendlicher mit finsterem Gesichtsausdruck auf einer Bank herum. Er hatte eine geschwollene Lippe, und an seinem rechten Auge zeichnete sich bereits ein Veilchen ab.
Irgendwo in der Nähe stritt sich ein weiterer Halbstarker mit einem Polizisten. Seinen Ausführungen nach zu urteilen, war er mit dem ersten Burschen aneinandergeraten.
Doch es hielten sich noch mehr Personen im Büro des Sheriffs auf, unter ihnen eine Frau, die vor einem der Schreibtische saß und niedergeschlagen ins Leere starrte. Im Gegensatz zu dem Jungen am Eingang waren ihre blauen Flecken nicht frisch. Sie musste verprügelt worden sein, und das gründlich. Eine ihrer Prellungen hatte eine ungesund gelbe Farbe angenommen und zog sich von der linken Augenbraue bis über die ganze Wange.
Als sie spürte, wie er sie musterte, schaute sie kurz auf, senkte den Blick jedoch sofort wieder.
Die Frau hatte sprichwörtlich Angst vor ihrem eigenen Schatten. Ezra kannte solche Menschen, und er kannte auch die Typen, die Frauen wie sie so zurichteten. Er vermutete, dass sie nach ihrem Termin auf der Wache trotz allem wieder zu ihm zurückkehren würde, obwohl sie es eigentlich besser wissen musste.
Manchmal war das Polizistendasein der frustrierendste Job auf der ganzen Welt.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Er blieb stehen und schaute direkt in die Augen einer ziemlich gestresst wirkenden Frau, die ihm kaum bis zur Brust reichte. Ihre Frisur sah aus wie ein stahlgrauer Helm aus Haaren, passend dazu trug sie eine Brille im gleichen Farbton. Ihre Augen jedoch erstrahlten in einem lebhaften Grün. Ungeduldig funkelte sie Ezra an.
Er schenkte ihr ein Lächeln.
Sie hob eine Augenbraue.
Na gut, mit Charme brauchte er es also gar nicht erst zu versuchen. »Ich möchte zu Sheriff Dwight Nielson.« Auch wenn sein Lächeln keine Wirkung gezeigt hatte, so war ihm wenigstens mehr Zeit geblieben, um sein Gedächtnis nach dem Namen des Mannes zu durchforsten, mit dem er reden musste.
Mittlerweile lag doch sicherlich ein Bericht vor, in welcher Form auch immer … oder?
Vielleicht konnte er sich einfach mit dem Chef des ganzen Ladens zusammensetzen und herausfinden, was herauszufinden war.
Wie sich herausstellte, hatte er es mit Nielsons Sekretärin zu tun. In ihrem früheren Leben musste sie ein Drache gewesen sein – einer von denen, die einen geheimnisumwobenen Schatz in einer Höhle bewacht haben oder so ähnlich. Zumindest führte sie sich auf, als würde sie einen Haufen Juwelen hüten und nicht bloß die Bürotür eines Kleinstadt-Sheriffs im Auge behalten.
Vielleicht übte sie allerdings auch schon einmal für einen Job beim Secret Service.
Auf jeden Fall ließ sie ihn eine knappe Dreiviertelstunde warten, bevor sie ihm mit hochtrabender Stimme verkündete, dass der Sheriff nun ein paar Minütchen für ihn habe – wenn er noch eine Dreiviertelstunde warten könne.
Da er ohnehin schon den halben Vormittag auf der Wache vertrödelt hatte, konnte er jetzt auch zu Ende bringen, wofür er gekommen war. Also lächelte Ezra sie freundlich an. »Sicher. Hab gerade eh nichts Besseres zu tun«, antwortete er.
Sie schnaufte missbilligend und ließ ihn stehen.
Die restliche Zeit schlug er mit Magazinen aus den vergangenen zehn Jahren tot oder starrte aus dem Fenster und sah zu, wie draußen die Menschen vorbeiwuselten.
Auf die Sekunde genau fünfundvierzig Minuten später wurde er ins Büro des Sheriffs geführt. Die Sekretärin deutete auf einen Stuhl, doch Ezra hob nur eine Braue und blieb stehen.
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