Blinde Wahrheit
müssen Sie zugeben. Mitten in der Nacht hört eine Frau Schreie. Niemand kann etwas finden. Es gab keinen Unfall in der Umgebung. Merkwürdig, oder? So etwas kann man nicht einfach auf sich beruhen lassen.«
»Wenn man davon ausgeht, dass sie tatsächlich etwas gehört hat.«
»Und das tun Sie«, entgegnete Ezra und kniff die Augen zusammen.«
»Das habe ich nicht gesagt.«
Ezra fixierte den Sheriff, doch Nielson hielt seinem Blick stand. Der Mann, der ihm gegenübersaß, sah genau so aus, wie Dwight es erwartet hatte – wie ein Bulle eben. Er wirkte jung, recht eigenwillig und immer noch engagiert.
Entweder war er nicht lange genug im Dienst gewesen oder aber er gehörte einfach zu denen, die sich ihren Idealismus bis zum Schluss bewahrten.
Nein, Nielson überraschte nicht, welche Seiten er da an Ezra King entdeckte, und es wunderte ihn auch nicht weiter, dass er nun hier in seinem Büro saß. Der Detective war mit Lena Riddle im Bistro gesehen worden, und auch wenn das noch keiner Heiratserklärung gleichkam – angesichts der Tatsache, dass Lena seit der Trennung von Remy Jennings im vergangenen Jahr mit niemandem außer Law Reilly und Roz Jennings gegessen hatte, war es bemerkenswert.
Außerdem besaß Nielson gute Ohren.
Mehrere seiner Deputys hatten über Lenas sonntäglichen Besuch gesprochen, und in diesem Zusammenhang auch darüber, dass Ezra King ebenfalls dagewesen war.
Der Mann vor ihm mochte zwar Polizist sein – ob nun beurlaubt oder nicht, das spielte keine Rolle – , aber er war auch nur ein Mann. Und ganz sicher hatte ihn an diesem Tag nicht sein Instinkt allein ins Büro des Sheriffs geführt.
Und an diesem Punkt begann es heikel zu werden.
Nielson hatte generell kein Problem damit, mit einem Kollegen ein paar Informationen auszutauschen.
Er sträubte sich jedoch dagegen, einen Mann ins Vertrauen zu ziehen, der ein privates Interesse an einer Person besaß, die Gegenstand einer laufenden Untersuchung war.
»Ich bin zu noch keiner Entscheidung gekommen«, antwortete Nielson ausweichend.
King schnaubte. »Die Floskel können Sie bei jemandem bringen, der nicht weiß, wie der Hase läuft, Sheriff. Hören Sie, ich möchte lediglich wissen, ob Sie der Sache nachgehen werden.«
»Darf ich fragen, warum? Abgesehen von Ihrem … Interesse an Miss Riddle? Denn das haben Sie, liege ich da richtig?«
»Ob ich an ihr interessiert bin oder nicht, hat nichts damit zu tun, dass ich heute hier bin.« Ezra rieb sich geistesabwesend den Oberschenkel.
»Ein Unfall im Dienst?«, fragte Nielson, als King den Blick abwandte und aus dem Fenster sah.
»Ja. Vor sechs Monaten.«
»Werden Sie die Arbeit wieder aufnehmen?«
King blickte wieder zu ihm. Er hatte lebhafte, dunkelgrüne Augen. »Keine Ahnung.« Er zögerte. »Ich weiß nicht, ob ich das kann.«
In dieser Antwort schwang einiges mit. Nielson nickte verständnisvoll. Wahrscheinlich steckte eine längere Geschichte dahinter. Aber er würde nicht weiter bohren. Die Augen dieses Mannes verrieten ihm, dass er dunkle, traurige Geheimnisse hatte, die unangetastet bleiben sollten.
»Hören Sie, ich will Ihnen keinen zusätzlichen Ärger machen.« King beugte sich vor und stützte sich mit den Ellenbogen auf den Knien ab. Scheinbar mühelos hielt er Nielsons Blick stand. »Das ist Ihr Kompetenzbereich, das weiß ich, und ich respektiere das. Aber drücken wir es mal so aus, ich habe mitbekommen, wie Ihr Deputy am Sonntag mit Lena Riddle gesprochen hat, und seine Aufmerksamkeit hielt sich in Grenzen. Der Idiot wäre nicht viel abweisender gewesen, wenn er sie gleich zu Beginn des Gesprächs zur Tür geleitet hätte. Der Typ ist ein ziemliches Arschloch, Sheriff.«
Und das war noch milde ausgedrückt. Aber Nielson hatte gelernt, mit Prather zusammenzuarbeiten. Es überraschte ihn jedoch nicht sonderlich, dass Lena Riddles Fall nachlässig von ihm bearbeitet worden war, auch wenn es ihn ärgerte.
Und er würde ein Wörtchen mit dem Deputy reden müssen.
Er lächelte leicht. »Ich werde über Ihre Worte nachdenken. Aber mir erschließt sich immer noch nicht ganz, warum genau Sie sich so sehr in dieser Sache einsetzen.«
Ezra hatte damit gerechnet, dass diese oder eine ähnliche Frage aufkommen würde, und er hatte sich auch bereits eine Antwort zurechtgelegt. Er rutschte auf seinem Stuhl etwas tiefer und versuchte, möglichst teilnahmslos zu wirken. »Ich bin mit Lena Riddle befreundet – das ist alles, zum jetzigen Zeitpunkt jedenfalls. Ihre
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