Blinde Wahrheit
nachdem er aufgelegt hatte. Schlafen würde er nicht mehr, das war klar. Eigentlich müsste er die Fluggesellschaft anrufen und seinen Rückflug buchen. Allerdings wollte er nicht die Telefonleitung blockieren, solange er nicht wusste, was überhaupt los war.
Verflucht, warum hatte er Hope allein zurückgelassen?
Joey – Scheiße, war er ihr etwa auf die Spur gekommen?
Der Wichser hatte gesagt, er werde sie niemals gehen lassen. Hatte er sie in Laws Haus aufgespürt?
»Was passiert da?«, fragte Hope mit zitternder Stimme. Sie klang so nervös, so verletzlich. »Warum stehen da so viele Autos? Wozu brauchen sie den Lieferwagen?«
Lena seufzte. Sie fühlte sich unglaublich nutzlos. Sie erhob sich, griff nach Pucks Geschirr und orientierte sich an Hopes Atemgeräuschen. Anscheinend stand sie am Fenster – sie atmete unregelmäßig, stoßweise, als müsste sie aufpassen, es nicht zu vergessen.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Lena, als sie neben Hope stand. Vorsichtig legte sie ihr eine Hand auf die Schulter. »Aber keine Sorge, ich geh nicht so schnell. Law und ich hegen beide eine Abneigung gegen diesen Idioten Prather, und solange er auf Laws Grundstück rumstapft, bin ich hier nicht wegzubewegen.«
»Der Kerl ist ein Arschloch«, sagte Hope nach einer kurzen Pause leise.
»Allerdings. Der glaubt, seine Dienstmarke mache ihn zu was Besonderem.«
»Das glauben viele.« In ihrer Stimme schwang Verbitterung mit, Wut. Und Angst – so unendlich viel Angst. »Als wären sie mit diesem Stück Metall in der Tasche unantastbar.«
»Niemand ist unantastbar.« Lena drückte ihr kurz die Schulter und ließ dann die Hand sinken. »Ich kann zwar nichts sehen, aber ich habe das Gefühl, dass Ezra den Kerl vorhin mal ein bisschen in die Schranken gewiesen hat. Die beiden scheinen sich überhaupt nicht abzukönnen.«
Hope trat unruhig von einem Fuß auf den anderen.
Nervosität konnte man hören: häufiges Schlucken, Rastlosigkeit, als wäre Stillstehen einfach zu viel verlangt. Hopes Unruhe schien von einem Schmerz begleitet, einem Kummer, der Lena im Herzen traf, innerhalb so kurzer Zeit. Kein Wunder, dass Law so besorgt war. Lena kannte gerade mal den Namen dieser Frau und verspürte schon den Drang, sie zu beschützen.
»Erzähl mir doch, was du siehst. Vielleicht kommen wir ja gemeinsam dahinter, was vor sich geht.«
»Irgendetwas stimmt da nicht«, sagte Hope leise. »Und es liegt nicht allein daran, dass jemand um Laws Haus herumgelaufen ist.« Zögernd fügte sie hinzu: »Ich … Ich glaube, er trug etwas über der Schulter.«
»Wer? Der Typ, den du gesehen hast?«
»Ja.«
Lena ließ diese Information sacken. Ihr wurde ganz kalt. Sie hörte schon wieder Sirenen, diesmal allerdings nur in ihrem Inneren, in ihr schrillten die Alarmglocken. Jetzt bekam sie es wirklich mit der Angst zu tun. Hoffentlich sah man es ihr nicht an. »Und was … was war das?«
»Keine Ahnung.« Hope schluckte schwer, dann flüsterte sie heiser: »Etwas Großes, Längliches. Fast wie eine … «
Doch sie ließ den Satz unbeendet, als fürchtete sie sich vor ihren eigenen Worten.
Wie eine Leiche? , fragte sich Lena und wieder hallte ein Schrei durch ihren Kopf. Die verzweifelte Stimme einer Frau.
Nach ein paar Monaten außer Dienst fiel es Ezra weder leichter noch schwerer, die Gewalt zu sehen, die man einem menschlichen Körper antun konnte. Wahrscheinlich war sie einmal hübsch gewesen, doch bei den ganzen Prellungen und Quetschungen war das schwer zu sagen.
Vermutlich war sie vergewaltigt worden, nach den blauen Flecken an Schenkeln und Hüfte zu urteilen wahrscheinlich sogar mehrmals. Einige der Prellungen waren bereits verheilt, andere fast neu.
Über ihren ganzen Körper zogen sich Schrammen und Kratzer, vor allem außen an den Außenseiten der Arme und Beine, wie Ezra nachdenklich feststellte.
Zog man sich solche Schrammen zu, wenn man durch den Wald rannte?, fragte er sich. Vielleicht hatte sie sich dabei auch das Knie angeschlagen. Solche Verletzungen entstanden nicht durch Schläge – auch wenn er kein Arzt war, so viel wusste er.
Am Rande des Geschehens beobachtete Ezra, wie Nielson seinen Männern ruhig und kompetent Anweisungen erteilte. Das war nicht sein erster Mordfall, keine Frage.
Prather allerdings … Prather erwies sich als gewaltige Nervensäge.
»Der kranke Drecksack – ich hab schon immer gewusst, dass der sie nicht alle hat«, brummte Prather, während sich einer der Deputies schnellstens vom
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