Blinde Wut
Kröll hinüber, aber dessen Interesse schien sich allein auf Däubler zu beschränken.
»Ich komme später noch einmal«, meinte Lutz und machte Anstalten, sich zurückzuziehen.
»Ist Marion etwas zugestoßen?« fragte Däubler ängstlich.
Lutz drehte sich wieder zu ihm um und nickte.
»Ein Unfall?«
Lutz schüttelte den Kopf und sah fragend zu Kröll hin. Der gab ihm ein Zeichen fortzufahren. Lutz sah Däubler wieder an.
Der starrte vor sich hin und sprach dann wie in Trance: »Ja, jetzt erinnere ich mich wieder. Ich sitze am Steuer. Marion neben mir, und Christian…« Er sah ängstlich zu Lutz hoch und fragte ihn laut und deutlich: »Was ist mit Christian?«
Lutz schüttelte den Kopf. »Nein, Herr Däubler«, sagte er sehr behutsam, »so ist es nicht gewesen. Sie haben auf Marion und auf Christian geschossen und dann die Waffe gegen sich selbst gerichtet. Wissen Sie das nicht mehr?«
Mit einem Satz war Kröll bei Lutz, um ihn am Weiterreden zu hindern. »Sind Sie wahnsinnig?!« fuhr er ihn an. »Kein Wort mehr!«
Däublers Blick war merkwürdig starr geworden. Doktor Kröll beugte sich über ihn: »Herr Däubler, hören Sie mich?« fragte er eindringlich.
Däubler zeigte keinerlei Reaktion. Kröll prüfte schnell seine Reflexe. Die schienen in Ordnung zu sein. Kröll klopfte ihm leicht auf die Wange, änderte damit aber nichts an seiner Apathie. Er drückte auf den Alarmknopf und bedeutete Lutz mit einer ungehaltenen Geste, das Zimmer zu verlassen. In der Tür stieß Lutz fast mit der herbeieilenden Krankenschwester zusammen.
»Bleiben Sie bitte bei dem Patienten«, forderte Kröll die Schwester auf und fügte erklärend hinzu: »Er ist im Moment wieder in einer Art Schockzustand. Falls eine Änderung eintritt, informieren Sie mich bitte sofort.«
Die Krankenschwester nickte und Kröll folgte Lutz nach draußen. Er holte ihn ein, als Lutz gerade zu Wagner an das Fenster treten wollte.
»Nennen Sie das eine behutsame Befragung?« fuhr er ihn empört an. »Sie hätten ihn umbringen können! Ich werde Ihnen weitere Befragungen untersagen müssen.«
Für Wagner war es ein Fest, seinen Chef in der Rolle des gescholtenen Schulbuben erleben zu dürfen, und er genoß mit einem süffisanten Lächeln, wie der sich jetzt entschuldigte: »Es tut mir wirklich leid«, sagte Lutz zerknirscht. »Was ist mit ihm?«
Kröll mußte seinen Ärger erst runterschlucken, bevor er antworten konnte. »Wie Sie gesehen haben, ist er nicht ansprechbar. Das ist eine Art Selbstschutz des Gehirns. Der Patient reagiert mit völliger Apathie, wenn der Verstand eine übergroße seelische Belastung nicht verkraften kann oder will.«
Lutz nickte.
»Dieser Zustand kann Stunden andauern«, fuhr Kröll fort, »manchmal auch Tage. Es hat auch Fälle gegeben, wo es sich überhaupt nicht mehr gegeben hat. Und bei diesem Patienten kommt noch hinzu, daß er offensichtlich unter einer partiellen Amnesie leidet.«
Lutz sah ihn fragend an.
»Haben Sie nicht gemerkt, daß er sich überhaupt nicht an seine Tat erinnern kann?«
»Schon, aber…« Lutz hielt kurz inne, bevor er fortfuhr: »Sagen Sie, wäre es nicht angebracht, man würde ihn von einem Psychiater untersuchen lassen?«
»Das ist ja nicht zu fassen!« dachte Wagner, der den Disput aufmerksam verfolgt hatte. Statt ganz still zu sein nach dem Mist, den er verbockt hatte, erteilte der Alte jetzt auch noch gute Ratschläge! Wagner hoffte inständig, daß Doktor Kröll sich das mit einer geschliffenen Replik verbitten würde.
Aber seine Hoffnungen wurden enttäuscht. »Das ist sehr nett, daß Sie mich darauf aufmerksam machen«, erwiderte Kröll. »Selbstverständlich bekommt er noch eine genaue psychiatrische Untersuchung. Aber wie Sie selbst bemerkt haben, ist sein Zustand noch zu kritisch.«
Lutz nickte. Herablassend, wie Wagner fand. Und der Blick, den Lutz ihm danach zuwarf, sollte ihm wohl signalisieren, daß er die Oberhand behalten hatte. Wagner wich dem Blick unwillkürlich aus. Er befürchtete, daß Lutz sonst seine Gedanken erraten könnte. Und die würden ihm sicher nicht gefallen.
Als Lutz und Wagner das Krankenhaus verließen, die Freitreppe hinabgingen und sich auf den Weg zum Parkplatz machten, war Lutz in Gedanken noch immer bei dem Fall. Er blieb stehen und sah Wagner, der notgedrungenerweise ebenfalls haltmachte, versonnen an.
»Ist doch merkwürdig, oder?« sagte er leise und mehr zu sich selbst. »Da begeht einer so eine furchtbare Tat und kann sich
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