Blinde Wut
abschwellende Ton der Sirenen verstärkte noch die Angst der Menschen, die sich auf den Weg zu den Luftschutzkellern machten.
Lutz hatte mit seinem Bruder, seiner Mutter und den Großeltern die Wohnung im zweiten Stock verlassen, jeder trug einen kleinen Koffer oder eine Tasche, die das Wichtigste und Nötigste enthielt. Alles war wie in den unzähligen Nächten zuvor, der Gang nach unten war längst zur Routine geworden.
Als sie die Kellertreppe erreicht hatten, war es zu einer Rangelei zwischen ihm und seinem kleinen Bruder gekommen. Jeder wollte beim Abstieg der erste sein, sie schubsten sich gegenseitig, bis sein Bruder plötzlich das Gleichgewicht verlor, sich ein-, zweimal überschlagend hinunterstürzte, und am Fuß der Treppe leblos liegenblieb.
Niemand hatte Lutz die Schuld an diesem schrecklichen Unglück gegeben, alle hatten sich bemüht, ihm über den Tod seines Bruders hinwegzuhelfen, und im Lauf der Zeit war es ihm gelungen, die Bilder aus seinem Gedächtnis zu bannen, die ihn zu zerstören drohten.
Ein merkwürdiges Piepsen holte ihn aus seinen Erinnerungen in die Gegenwart zurück. Lutz sah sich um. Das Geräusch kam aus dem kleinen Gerät, das Doktor Kröll immer bei sich trug, und das ihm jetzt signalisierte, daß er dringend gebraucht wurde. Der Arzt gab Lutz ein Zeichen, das Zimmer zu verlassen, und stürzte hinaus. Lutz sah noch einmal bekümmert zu dem kleinen Christian hin und folgte dem Arzt nach draußen.
Kröll war bereits verschwunden, aber es gab im Augenblick ohnehin nichts mehr zu besprechen. Lutz, der noch etwas Abstand gewinnen wollte, hatte es nicht eilig, zum Auto zu kommen. Wagner konnte ruhig noch eine Weile auf ihn warten. Das würde zwar dumme Sprüche zur Folge haben, aber damit würde Lutz auch noch fertig werden. Er hatte, bevor sie aufgebrochen waren, einen Blick in die Liste der Fortbildungslehrgänge geworfen und bereits einige vielversprechende Angebote entdeckt.
Als er langsam die Treppe hinabstieg, fing sein Auge an zu jucken. Er setzte die Brille ab und rieb sich vorsichtig das Auge. Das Jucken sagte ihm, daß der Heilungsprozeß eingesetzt hatte. Bald würde er auf die Sonnenbrille verzichten können, die ihm lästig war und ihn zudem aussehen ließ, als sei er von der Mafia.
Das Auto war leer – und abgeschlossen. Wagner, der zuletzt gefahren war, hatte den Schlüssel eingesteckt. Lutz sah sich um, konnte aber keine Spur von seinem Assistenten entdecken. Der Ärger kroch langsam in ihm hoch. Jetzt würde er sich ein paar dumme Sprüche ausdenken müssen!
Wagner war, nachdem er in den Fahrstuhl gestiegen war, erst mal ganz nach oben gefahren. Das ging schnell und ohne Unterbrechung. Abwärts wurde der Lift dann fast in jedem Stockwerk angehalten. Ärzte, Patienten, Schwestern und Besucher stiegen ein und wieder aus, und immer wenn die Tür sich geschlossen hatte, gab es ein Gehuste und Gepruste auf engstem Raum. Als Wagner sich die Millionen und aber Millionen von Bazillen, Viren und Bakterien vorstellte, die durch die Luft schwirrten, hatte er fast so etwas wie Verständnis für die Vorliebe seines Chefs fürs Treppensteigen. Er war jedenfalls froh, als der Lift endlich unten angekommen war, und er ihn verlassen konnte.
Beim Parkplatz angelangt, hatte er dann den Blumenladen entdeckt, und das brachte ihn auf die Idee, ein kleines Dankeschön für Schwester Birgitta zu besorgen. Er ließ sich einen Strauß zusammenstellen, der nach seinem Geschmack war, und von dem er hoffte, daß er auch Schwester Birgitta gefallen würde. Wenig später trat er mit den Blumen in der Hand und strahlend wie ein Brautwerber in das Stationszimmer.
»Hallo!« rief er munter Schwester Birgitta zu, die, mit Schreibarbeiten beschäftigt, an einem Tisch beim Fenster saß und ihm den Rücken zukehrte. Als sie sich jetzt zu ihm umdrehte, erkannte Wagner, daß es nicht Schwester Birgitta war, sondern eine andere, ihm völlig fremde Krankenschwester, die ihn mit gerunzelten Brauen musterte.
»Entschuldigen Sie«, brachte Wagner verwirrt hervor, »ich wollte zu Schwester Birgitta.«
»Die ist schon weg«, teilte ihm die Krankenschwester knapp mit.
»Wohin?« stammelte Wagner, der seine Enttäuschung kaum verbergen konnte.
»Was weiß ich? Nach Hause vielleicht. Oder Einkaufen. Wohin man halt nach Dienstschluß geht.«
»Ach, ihr Dienst ist schon zu Ende?«
»Erraten«, sagte die Krankenschwester spöttisch. »Dafür gebe ich Ihnen drei Punkte.«
»Dann kommt sie heute also
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