Blinde Wut
den abgewinkelten Unterarmen vor sich her tragend, ging Wagner zum Krankenzimmer von Däubler zurück. Vor der Tür stand Lutz. Lange konnte er nicht gewartet haben, denn Doktor Kröll war noch bei ihm. Trotzdem fuhr er Wagner vorwurfsvoll an: »Wo stecken Sie denn?«
Wagner deutete mit einer Kopfbewegung auf das Paket, das Lutz ohnehin nicht übersehen haben konnte. »Die Sachen von Däubler. Nehmen wir die mit ins Präsidium?«
Lutz dachte kurz nach und schüttelte dann den Kopf. »Nein, die bleiben hier.« Er nahm Wagner das Paket ab und hielt es einer gerade vorbeikommenden Krankenschwester hin. Die blickte fragend zu Doktor Kröll hin.
»Legen Sie es in den Schrank von Herrn Däubler«, meinte der Arzt. Während die Schwester mit dem Paket in der Hand in Däublers Krankenzimmer verschwand, wandte Kröll sich an Lutz: »Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Däubler leidet zweifellos an einer partiellen Amnesie. Ich glaube nicht, daß das gespielt ist. Er hat den festen Willen, sogar den Wunsch, sich zu erinnern.«
»Meinen Sie, diese Amnesie gibt sich wieder?« wollte Lutz wissen.
»Kann sein, muß aber nicht«, antwortete Kröll und fuhr fort: »Ich habe den Kollegen Winkler von der Psychiatrie konsultiert. Er hat meine Diagnose bestätigt. Uns bleibt nichts übrig, als abzuwarten.«
Lutz seufzte auf. Er war zwar bekannt für seine Geduld, aber dieser Fall fing langsam an, sie auf eine harte Probe zu stellen.
»Kollege Winkler«, fuhr Kröll unterdessen fort, »wird übrigens später die psychiatrische Behandlung von Herrn Däubler übernehmen. Sie hatten sich darüber ja schon Sorgen gemacht.«
»So?« meinte Lutz und tat, als könne er sich nicht daran erinnern. Aber Wagner nickte heftig. Er hatte diesen Auftritt nicht vergessen, schon allein deshalb nicht, weil er ihm so peinlich war und er sich fast für seinen Chef geschämt hatte.
Die Gesprächspause, die nun entstanden war, wollte Kröll nutzen, um sich zu verabschieden. Schließlich gab es auch noch andere Patienten, um die er sich zu kümmern hatte. Aber der Kommissar hielt ihn auf.
»Der kleine Christian«, begann er sich zu erkundigen, »der ist wohl noch nicht so weit, daß man ihn vielleicht ganz vorsichtig befragen könnte?«
Kröll verneinte barsch und ohne zu zögern. »Er liegt zwar nicht mehr auf der Intensivstation, aber er war erst ein paarmal für kurze Zeit bei Bewußtsein. Wir können immer noch nicht mit Sicherheit ausschließen, daß er eine Hirnschädigung davongetragen hat.«
»Ich würde ihn trotzdem gerne sehen«, sagte Lutz starrsinnig.
Wagner konnte sich nicht vorstellen, daß der Anblick eines bewußtlosen Kindes ihm irgend etwas bringen könnte, und da er auch keine Lust hatte, immer nur hinter Lutz herzudackeln, blieb er, als sie das Treppenhaus erreicht hatten und Lutz und der Doktor sich anschickten, die Treppe zur Kinderabteilung hinaufzusteigen, stehen.
»Ich geh schon mal nach unten«, rief er Lutz zu. »Wir treffen uns dann am Auto.«
Lutz nickte gnädig. Wagner ging zum Fahrstuhl und drückte auf den Knopf, um den Lift zu holen, der ihn nach unten bringen sollte. Zu Fuß wäre das zwar schneller gegangen, aber Wagner, der ein kindisches Vergnügen am Fahrstuhlfahren hatte, nutzte jede Gelegenheit, dieser Lust zu frönen. Meistens mußte er nämlich die Treppen nehmen, um Lutz zu folgen, der offenbar unter einer Klaustrophobie litt, was er aber nie zugeben würde.
Im Schlepptau von Doktor Kröll erreichte Lutz das Zimmer, in dem der kleine Christian lag. Wie schon beim erstenmal, als er ihn in der Wohnung wie tot am Boden hatte liegen sehen, versetzte ihm der Anblick einen Stich, der vom Kopf ausging und ihn mitten ins Herz traf. Ein Bild aus seiner Kindheit, das er total verdrängt hatte, war plötzlich in aller Schärfe und mit allen Einzelheiten vor seinem geistigen Auge wieder aufgetaucht.
Es zeigte seinen kleinen Bruder, damals im Alter von Christian und etwa halb so alt wie er selbst, der aufgebahrt auf einem wackligen Tisch lag, mit wächserner Blässe im Gesicht und sich nicht rührte. Herzergreifendes Weinen, Schluchzen und Wimmern untermalten dieses Bild, und Lutz sah sich wie gelähmt vor Schmerz und Entsetzen an dem Tisch stehen. Es war seine erste unmittelbare Begegnung mit dem Tod – und mit persönlicher Schuld.
Der Tod war damals allgegenwärtig in den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs in Berlin. Es hatte gerade Fliegeralarm gegeben und der gräßliche, an- und
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