Blinder Hunger: Ein Anita Blake Roman (German Edition)
geraubt, und wofür, Malcolm? Wofür?« Zuletzt schrie ich, und ihm wehte eine Hitze entgegen wie von einem lodernden Feuer.
All die kleinen Vampire, die ich noch an der Leine meiner Macht hielt, schrien auf. Ich hatte sie verletzt, ohne es zu wollen. Ich wollte es wiedergutmachen, hatte aber fürs Trösten keine große Begabung. Aber Jean-Claude in gewisser Weise. Er und seine Linie brachten allerdings auch ein Problem mit. Wenn man als Werkzeug nur einen Hammer hat, dann sieht jedes Problem wie ein Nagel aus. Wenn man als Werkzeug nur Verführung und Schrecken hat und man versucht, nett zu sein … nun ja.
65
I ch konnte ihren Puls auf der Zunge schmecken. Nicht nur einen, sondern Hunderte, als hätte ich eine ganze Lkw-Ladung Bonbons im Mund. Harte, süße Bonbons, die langsam im Mund zergingen. Aber nicht nur Kirsch- oder Trauben- oder Rootbeer-Geschmack, sondern Hunderte Aromen füllten meinen Mund, sodass es anstatt köstlich, überwältigend war.
Ich konnte nichts Einzelnes herausschmecken, keinen einzelnen Puls verfolgen. Ich konnte keinen auswählen, weil ich sie nicht auseinandersortieren konnte. Das blockierte mich. Ohne einen herauszulösen, konnte ich keinen aufnehmen. Ich sank auf die Knie und ging unter in Hunderten von Gerüchen. Ich roch ihre Haut, diesen wunderbaren Duft des Halses, wo es am süßesten duftet, wenn man verliebt ist. An jedem Hals haftete ein anderer Geruch: Rasierwasser, Parfüm, Seife, Schweiß. Es war, als ob ich zu jedem hinginge und die Nase an ihre Haut hielte – nah genug für einen Kuss – und ihren Geruch einatmete.
Zerbrowski war neben mir, die Waffe in der Hand, aber mit dem Lauf nach oben. »Anita, was ist los? Hat er Ihnen was getan?«
Wer?, dachte ich. Wen meint er? Es sind so viele.
Ich versuchte, trotz all der Pulse in meinem Mund zu schlucken, und schaffte es nicht. Ich bekam den Bissen nicht hinunter. Es war zu viel.
Jean-Claude sprach in meinem Kopf. »Ma petite, du musst wählen.«
Es gelang mir zu denken: »Kann nicht.«
»Wen wolltest du dort finden?«, fragte er.
Wen wollte ich dort finden? Gute Frage. Wen? Darauf lief es immer wieder hinaus.
Zerbrowski packte meinen Arm. »Anita! Ich brauche Sie hier. Was ist los?«
Er brauchte mich. Ich sah Smith und Marconi mit gezogener Waffe. Sie brauchten mich auch, weil sie es nicht fühlen konnten. Ich musste funktionieren, denken, sprechen, sonst würde die Sache aus dem Ruder laufen. Ich war hier als Marshal Anita Blake, daran hatte ich zu denken. Dann erinnerte ich mich an etwas, das von all den Gerüchen verdrängt worden war.
Avery, ich brauchte Avery. Ich dachte den Namen und hatte plötzlich nur noch seinen Puls auf der Zunge. Seine Haut roch nach Eau de Cologne, einem teuren, das pudrig-süß duftete, wie gutes Parfüm, aber darunter lag Schweiß. Er hatte nicht geduscht. Das brachte mich auf die Frage, was er außer Schweiß nicht abgewaschen hatte, und sofort war es, als ginge ich mit der Nase an seinem Körper entlang. Mein Atem blies gegen seine Haut und wehte mir seinen Geruch entgegen, in meine Nase, in meinen Mund. Ich roch nicht nur, ich schmeckte seine Gerüche. Geruch und Geschmack hatten für mich eine andere, intimere Bedeutung bekommen. Das hatte nicht mit Jean-Claude, sondern mit Richards Kräften zu tun, und ich wehrte den Gedanken an ihn angestrengt ab, um die Verbindung zwischen uns nicht noch weiter zu öffnen. Ich wollte Richard jetzt nicht in meinem Kopf haben.
Jean-Claude ließ mich wortlos wissen – oder vielleicht nicht ganz wortlos, nur zu schnell, um sich einzelner Worte bewusst zu werden –, dass er mich vor Richard abschirmen werde. Er werde mich nicht in noch mehr Sinneseindrücken untergehen lassen. Dennoch hatte ich es Richard zu verdanken, dass ich Avery fand. Avery hatte Sex gehabt und sich hinterher nicht gewaschen. Ich war davon nicht angewidert, eher neugierig, denn dank Jean-Claudes Zeichen und meiner eigenen Macht wusste ich, dass Avery seine Person ebenso pingelig sauber hielt wie seine Wohnung.
Zerbrowski drückte meinen Arm energischer, blutergussverdächtig. »Anita, verdammt, wir dürfen ihn nicht erschießen. Auf dem Hinrichtungsbefehl steht Ihr Name. Wir sind keine Henker. Anita, kommen Sie zu sich!«
Ich blickte ihn groß an und sah an seiner anderen Seite Avery stehen. Marconi war an ihn herangetreten und drückte ihm die Mündung an die Brust. Avery tat nichts Bedrohliches, stand nur da und lehnte sich gegen den Druck der Pistole, weil er
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