Blinder Hunger: Ein Anita Blake Roman (German Edition)
sie nicht jagen. Er ließ sie nicht mal in die Clubs gehen und sich an bereitwilligen Blutspendern bedienen. Ich sah einen endlosen Strom von Kirchenmitgliedern ganz in Weiß wie Opferjungfrauen ihren Hals darbieten. Sie bekamen nur wenig Blut, gerade genug, um nicht zu sterben, nie genug, um satt zu werden.
Ich sah den dicken, zähflüssigen Punsch im Gemeindesaal und wusste, dass er nur ein bisschen Blut von mindestens drei Vampiren enthielt. Darauf gab Malcolm genau acht. Er wollte nicht, dass diese versehentlich einen Neuling mit dem Bluteid an sich banden. Doch er benutzte nie sein eigenes Blut, aus Angst, was daraus entstehen könnte.
Malcolm riss sich los, aber zu spät. Ich brauchte seine Aussage nicht mehr.
Ich schaute an ihm vorbei zu einer jungen Frau mit langen dunklen Haaren und Brille. Der erste Vampir, den ich mit Brille sah. Sie griff sich an die Brust, und ich wusste, warum. Ihr Herz schlug plötzlich heftig. Und ich sah noch mehr. Ich sah, dass sie als Mensch hergekommen war und sich kniend hatte zum Vampir machen lassen. Es waren keusche Hände gewesen, die ihre bekleideten Schultern fassten. Niemand hatte sie an sich gedrückt und sich so machtvoll an ihr gesättigt, dass sie diesen Rausch erlebte, gegen den Sex eine blasse Angelegenheit war.
»Stopp«, sagte Malcolm, »lassen Sie sie in Ruhe!«
Langsam drehte ich den Kopf, um ihn anzusehen, und was er in meinem Gesicht sah, ließ ihn einen Schritt zurückweichen. »Sie haben sie mir alle übergeben«, sagte ich honigsüß. Diese Macht, diese immense Macht. Erst vorige Nacht hatte ich festgestellt, dass Vampire mir als Vertraute dienen konnten. Ich hatte geglaubt, dass dazu eine besondere Verbindung nötig sei, aber Irrtum, ich konnte mich an allen sättigen, sie anzapfen wie einen riesigen Kraftspeicher.
Zerbrowski trat dicht an mich heran und schauderte unwillkürlich. »Anita, was geht hier vor?«, fragte er flüsternd.
»Er hat seine Vampirkräfte an mir eingesetzt, um zu erfahren, was ich über den Fall weiß«, antwortete ich mit derselben süßlichen Stimme. Sie hörte sich an, als könnte man sie lutschen wie ein Bonbon. Ein Trick von Jean-Claude. Der Gedanke genügte. Plötzlich waren wir in Kontakt, und er wusste, was um mich herum passierte. Lauter Dinge, die er erfahren musste. Er war der Meister von St. Louis, nicht Malcolm. Er hatte ein Abkommen toleriert, das seine Vorgängerin mit Malcolm geschlossen hatte, aber nun … Tja, wir würden sehen. Das war ein Problem für eine andere Nacht. In dieser Nacht ging es um den Mord.
»Sind Sie verletzt?«, fragte Zerbrowski. Seinem Ton nach glaubte er das nicht, aber er wusste, dass etwas nicht in Ordnung war.
»Nein«, sagte ich, »ich bin unverletzt.« Wenn ich ihre Gefühle spüren kann, dachte ich, wenn ich ihre Erinnerungen sehen kann, indem ich ihnen ins Gesicht blicke, was kann ich dann noch alles?
Avery, Avery, wo bist du? Ich spürte eine Reaktion, einen leisen Windhauch im Gesicht. Ich drehte mich in die Richtung, aus der der Hauch gekommen war, zu den links stehenden Bänken. »Avery, Avery, Avery.« Ich sprach den Namen jedes Mal ein bisschen lauter, aber nicht so, dass es durch das Kirchenschiff hallte.
In der Mitte einer Reihe stand ein Vampir auf. Er war mittelgroß, hatte kurze braune Haare und ein gutaussehendes, weiches, unfertig wirkendes Gesicht, als hätte er das gesetzlich vorgeschriebene Alter bei seinem Übertritt noch nicht erreicht.
Ich streckte ihm die Hand entgegen. »Avery, komm zu mir, komm zu mir, Avery, komm her zu mir.«
Er drängte sich durch die Reihe. Jemand wollte ihn aufhalten, eine Menschenfrau. Sie fasste ihn am Handgelenk. »Geh nicht«, sagte sie und schüttelte den Kopf.
Er riss sich los, und ich hörte seine Stimme, als stünde er neben mir. »Ich muss gehen, sie ruft mich.« Dann wandte er mir das Gesicht zu. Aus seinen Augen schien braunes Licht, aber den Ausdruck in seinem Gesicht hatte ich bis dahin nur bei Menschen gesehen. Bei Menschen, die unter dem Bann eines Vampirs standen. Bei Menschen, die nicht nein sagen konnten.
Malcolms volltönende Stimme füllte den Raum. »Kinder, haltet ihn auf, er darf nicht zu ihr gehen. Sie ist die Hure des Meisters dieser Stadt. Sie wird unseren Avery verderben.«
Ich muss sagen, die Huren-Bemerkung machte mich sauer. » Ich? Ich werde ihn verderben?«, sagte ich zu Malcolm und legte meine ganze Wut hinein. »Mein Gott, Sie haben sie alle verdorben. Sie haben ihnen ihr sterbliches Leben
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