Blinder Instinkt - Psychothriller
faszinierte, hörte mit dem Tod schlagartig auf.
Deshalb interessierte der Tod ihn nicht.
7
Am frühen Sonntagmorgen war der Himmel wieder klar. Auffrischender Westwind hatte die Wolken des gestrigen Abends vertrieben. Gegen den Himmel wirkte der See geradezu dunkel und unheimlich.
Franziska Gottlob hatte ihre dicke alte Strickjacke übergezogen, die sie nur noch trug, wenn sie zuhause war. Trotzdem fröstelte sie, als sie auf den Holzsteg hinausschlenderte. Sie schlang Arme und Jacke fester um ihren Oberkörper. Es war kühl für einen Junimorgen, zehn Grad zeigte das Thermometer am Bootshaus an, dazu der leichte Wind, doch das war es nicht allein. Ein bisschen war auch das Wasser des Sees schuld an ihrem Frösteln. Vom Wind aufgeraut und angetrieben, plätscherte es gegen die Eichenpfähle, die den Steg seit vielen Jahren trugen. Die bewegte Oberfläche wollte ihr einfach keinen Blick zum Grund gewähren.
Am Ende des Steges blieb Franziska stehen, lehnte sich gegen den Wind, der ihr langes rotes Haar hinter ihrem Kopf flattern ließ, und sah rüber zum anderen Seeufer.
Wieder einmal spürte sie, wie wohltuend diese Umgebung auf sie wirkte. Alles hier war das genaue Gegenteil zu ihrem unruhigen, von Gewalttätigkeiten geprägten Leben in der Stadt. In diesem Haus am See war sie von ihrem siebten Lebensjahr an aufgewachsen. Ihre Eltern hatten es gekauft, nachdem die Romane ihres Vaters erstes gutes Geld eingebracht hatten. Ihre Seele war hier zuhause, das wusste Franziska, und sie fragte sich abermals, ob es richtig gewesen war, sich einen anderen Lebensmittelpunkt zu suchen.
Sie spürte die Vibration von Schritten im Holz und drehte
sich um. Ihr Vater kam den Steg entlang. Er trug eine grüne Baumwollhose, dazu einen gefütterten Windbreaker, dessen flauschiger Kragen hochgestellt war. Die beiden Kleidungsstücke besaß er seit vielen Jahren, sie waren unverwüstlich, aber heute schien er darin zu versinken. Er war kleiner und schmaler geworden, und Franziska ahnte, dass nicht nur das Alter ihn Substanz kostete.
Ihr Lächeln wollte nicht so recht gelingen, als er sie erreichte.
»Guten Morgen, meine Kleine«, sagte er und umarmte sie. Er hatte sich noch nicht rasiert und kratzte. »Deine Mutter macht das Frühstück. In einer halben Stunde wird sie nach uns rufen«, sagte er und wandte sich zusammen mit seiner Tochter wieder dem See zu.
»Der Kampf war kurz, aber klasse, oder?«
Franziska nickte. »Obwohl er gleich in der ersten Runde unkonzentriert wirkte.«
»Ach was«, winkte ihr Vater ab, »das war nur Show. So leicht lässt der sich den Gürtel nicht wieder abnehmen.«
Dann schwiegen sie und sahen einem Entenpaar zu.
»Papa, ich …«
»Warte«, unterbrach er sie und griff in die Innentasche seiner Jacke. Er holte ein gefaltetes Blatt Papier heraus, faltete es auseinander und reichte es ihr. »Da, diese Stelle«, sagte er und wies mit dem Finger auf eine mit gelbem Marker umkringelte Zahl.
»Was ist das?«, fragte Franziska, die den Zettel nicht verstand. Es war irgendein Laborbefund, so viel war klar, und damit per se schon verwirrend.
»Diese Zahl benennt den aktuellen PSA-Wert zu Beginn der Bestrahlung. Er liegt bei 6,8.«
»Was ist ein PSA-Wert?«
»Prostata-spezifisches Antigen … lässt sich im Blut feststellen. Je höher der ist, umso schlechter. Ab einem Wert von zehn wird es wirklich kritisch. Ich zeige dir diesen blöden Wisch, weil ich dich gut kenne, weil ich weiß, wie wichtig für dich Zahlen und Fakten sind, alles, was sich überprüfen und vergleichen lässt. Ich weiß, dass meine Antwort gestern Abend dich nicht wirklich beruhigt hat. Merk dir den Wert. 6,8. Ein paar Wochen nach der Bestrahlung wird er noch mal gemessen, und wenn er dann deutlich niedriger ist, war die Behandlung erfolgreich.«
Franziska sah von dem Blatt Papier zu ihrem Vater auf. »So einfach?«
Er nickte. »So einfach. Auch Krebs lässt sich in Zahlen ausdrücken. Meine Schicksalszahl kennst du nun. Und ich möchte dich darum bitten, es solange darauf beruhen zu lassen, bis ich eine neue bekomme.« Er sah sie von der Seite her an. »Ist das in Ordnung für dich?«
Sie gab ihm den Zettel zurück. »Ja, ist es. Danke, Papa.«
Eigentlich wollte sie noch viel mehr sagen, aber ihr Vater, der sein ganzes Leben lang immer nur so viel geredet hatte, wie nötig war, hatte ihr gerade deutlich zu verstehen gegeben, dass diese seine Maxime auch für den Krebs in seinem Körper galt. Mehr gab es zurzeit nicht zu
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