Blinder Passagier
Stvan.
Ich glaube, dass er zu Ihnen gekommen ist, weil Sie in dem, was er seinen Opfern antat, sein Spiegelbild gesehen haben. Sie haben gesehen, wofür er sich schämt oder zumindest glaubte er das.«
»Wofür er sich schämt?«
»Mit seiner Nachricht wollte er Ihnen nicht versichern, dass er es nicht noch einmal versuchen würde.«, fuhr ich fort, »Ich glaube vielmehr, dass er Sie verhöhnte. Er wollte Ihnen mitteilen, dass er in souveräner Immunität alles tun konnte, was er wollte. Dass er zurückkommen und nicht noch einmal scheitern würde.«
»Aber wie es scheint hat er das Land verlassen.«, sagte Dr. Stvan »Offenbar musste er seine Pläne ändern.«
»Und er meint, dass ich gesehen habe, wofür er sich schämt? Ich habe ihn nicht gut gesehen.«
»Wir brauchen uns nur anzusehen, was er seinen Opfern angetan hat. Die Haare stammen nicht von seinem Kopf.«, sagte ich »Sie stammen von seinem Körper.«
36
Ich hatte in meinem Leben erst einen Fall von Hypertrichose gesehen, als ich als Assistenzärztin in Miami arbeitete und zwar in den pädiatrischen Abteilungen der Krankenhäuser.
Eine Mexikanerin hatte ein Mädchen zur Welt gebracht, und zwei Tage später war das Baby mit feinem hellgrauen Haar bedeckt, das fast fünf Zentimeter lang war. Dichte Büschel wuchsen aus seinen Nasenlöchern und Ohren, es litt unter Photophobie, seine Augen reagierten überempfindlich auf Licht.
Bei den meisten hypertrichotischen Fällen nimmt die Behaarung zu, bis nur noch Schleimhäute, Handflächen und Fußsohlen davon verschont sind, und in extremen Fällen wachsen die Haare im Gesicht so lange, dass die Person sich entweder häufig rasieren muss oder die Haare gelockt werden müssen, damit sie überhaupt noch etwas sieht. Andere Symptome sind Anomalien des Gebisses, verkümmerte Genitalien, mehr Finger, Zehen und Brustwarzen als normal und ein asymmetrisches Gesicht. In früheren Jahrhunderten wurden manche dieser armen Wesen als Kuriositäten an Zirkusse oder Königshäuser verkauft. Andere galten als Werwölfe.
»Nasses, schmutziges Haar. Wie ein nasses schmutziges Tier«, sagte Dr. Ruth Stvan.
»Ich frage mich, ob ich nur seine Augen gesehen habe, als er vor meiner Tür auftauchte, weil sein ganzes Gesicht mit Haaren bedeckt ist. Und vielleicht steckten deswe-gen auch seine Hände in den Manteltaschen.«
»Auf jeden Fall kann er sich bei seinem Aussehen nicht raus und unter die Leute wagen«, sagte ich.
»Höchstens nachts hinaus. Scham, Lichtempfindlichkeit und jetzt Mord. Er wird seine Aktivitäten auf die Nacht beschränken.«
»Er könnte sich rasieren«, meinte Dr. Stvan. »Zumindest die Be-reiche, die die Leute sehen. Gesicht, Hals, Handrücken.«
»Manche der Haare, die wir gefunden haben, schienen rasiert«, sagte ich.
»Wenn er auf einem Schiff war, musste er etwas unternehmen.«
»Er muss sich ausziehen, zumindest teilweise, wenn er mordet«, sagte sie. »Sonst würde er nicht so lange Haare zurücklassen.«
Ich fragte mich, ob seine Genitalien verkümmert waren und ob er deswegen seine Opfer nur von der Taille an aufwärts entkleidete. Vielleicht erinnerte ihn der Anblick normaler weiblicher Genitalien an seine eigene Unzulänglichkeit als Mann. Sein Gefühl der Demütigung, seine Wut mussten unvorstellbar sein.
Es war typisch, dass Eltern ein hypertrichotisches Baby nach der Geburt zurückwiesen, besonders wenn es sich um eine mächtige stolze Familie wie die Chandonnes auf der exklusiven Ile Saint-Louis handelte.
Ich stellte mir diesen gepeinigten Sohn vor, diese espece de sale gorille, der an einem dunklen Ort in einem Jahrhunderte alten Gebäude lebte und es nur nachts verließ.
Verbrecherkartell oder nicht, eine reiche Familie mit einem geachteten Namen würde nicht wollen, dass die Welt von diesem Sohn erfuhr.
»Es gibt immer die Hoffnung, dass wir in Frankreich die Akten lassen können, um herauszufinden, ob ein solches Baby geboren wurde«, sagte ich.
»Das sollte nicht schwer sein, weil Hypertrichose sehr selten ist. Ein Fall auf ungefähr eine Milliarde Menschen.«
»Es wird keine Unterlagen über ihn geben«, sagte Dr. Stvan bestimmt.
Ich glaubte ihr. Seine Familie hätte dafür gesorgt. Gegen Mittag verabschiedete ich mich von Dr. Stvan mit Furcht im Herzen und unrechtmäßig erworbenen Beweisen in meiner Aktentasche.
Ich verließ das Gebäude durch den rückwärtigen Ausgang, wo Leichenwagen mit Vorhängen in den Scheiben auf ihre nächste bedauernswerte Fracht
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