Blinder Rausch - Thriller
dem Fußball ein weißes Betttuch abgeschossen hatte. Sie hatten das Tuch schnell von der Leine genommen und waren in der alten Waschküche verschwunden, die man neben der Hoftür über eine äußere Kellertreppe erreichte. Dort hatten sie in dem alten Waschkessel, dessen Wasserzufuhr erstaunlicherweise noch funktionierte, das Tuch mit vereinten Kräften sauber geschrubbt und anschließend wieder ordentlich aufgehängt. Sie hatten brav in der Sandkiste gespielt und sich heimlich amüsiert, als die Hofmeister Wäsche abhängen wollte und sich wunderte, dass dieses eine Tuch nicht trocken geworden war.
Heute diente die alte Waschküche als Fahrradkeller. Sogar Tobis Buggy stand noch da unten. Schutzblechgeklapper war zu hören. Aha, also wirklich jemand, der sein Fahrrad runterbringen wollte. Die Person tat das allerdings nicht, sondern lehnte das Gefährt scheppernd gegen das Geländer, welches den Abgang zur Waschküchentreppe sicherte. Leonie ahnte, wer da gekommen war und schaukelte mit geschlossenen Augen sanft weiter. Schritte näherten sich ihr auf knirschendem Sand. Ein Schatten fiel über sie und knipste das warme Licht hinter ihren Lidern aus. Ihre Schaukelbewegung wurde abrupt unterbrochen, weil eine kräftige Hand unsanft in die Kette gegriffen hatte. Leonie wäre beinahe vom Schaukelbrett gerutscht und stemmte die Füße in den Staub. »Spinnst du?«, fauchte sie die Gestalt an, die als schwarze Silhouette vor der Sonne stand.
»Hey, sieh dir das an«, sagte er aufgebracht und trat einen Schritt zur Seite. Die Sonne goss gleißende Strahlen in ihr Gesicht, sodass sie einen Moment brauchte, bis sie ihren Blick in die Richtung lenken konnte, die er mit einer Armbewegung anzeigte. Dort hing das Rad schief am Geländer. »Beide Reifen durchstochen. Ich hab den ganzen Weg hierher geschoben. Das kann man nicht mehr reparieren. Da müssen zwei komplett neue Mäntel drauf!«
»Pech für dich«, kommentierte Leonie ohne Mitgefühl und machte sich daran, wieder loszuschaukeln, doch Niklas hielt die Kette weiterhin fest. »Lass mich«, sagte sie.
»Was ist mit dir?«, fragte er. »Wieso?« »Du siehst so verheult aus«, sagte er in deutlich sanfterem Ton.
Ihr wäre lieber gewesen, wenn er weiter über das Fahrrad geschimpft oder wenigstens mit ihr einen kleinen Streit begonnen hätte. Das hätte sie wunderbar parieren können. Sein Mitgefühl jedoch ließ in ihr alle Barrieren brechen und die Tränen strömten über ihr Gesicht. »Hast du Stress mit irgendwem?«, erkundigte er sich.
»Hör auf mit mir zu reden, wie mit einem kranken Gaul«, heulte sie auf. »Es ist nichts! Lass mich in Ruhe!«, schluchzte sie und stieß mit den Füßen in den Sand, um sich erneut Schwung zu geben. Niklas ließ die Kette los und schaute ihr eine Weile zu, wie sie mit geschlossenen Augen und nass glänzendem Gesicht dort schaukelte. »Hau ab!«, rief sie, weil sie seinen Schatten noch spürte. Als sie hörte, wie sich seine Schritte tatsächlich entfernten, stoppte sie ab und machte die Augen auf. Niklas ging neben seinem Fahrrad in die Hocke und begutachtete den Schaden.
»Ich glaube, mein Vater hat noch zwei Reifen mit Schläuchen in der Waschküche hängen. Ich kann ihn heute Abend fragen, ob er sie dir gibt«, lautete ihr Friedensangebot. Niklas zuckte mit den Schultern und sah zu ihr hinüber. »Wenn sie passen.« Und dann fügte er hinzu: »Ist es wegen Frederik?« Diese Frage traf sie unvorbereitet. Allein der Name löste eine erneute Tränenflut aus, sodass ihr Kopfschütteln nichts mehr nutzte. »Also wegen dem!«, stellte Niklas fest und kam wieder zu ihr hin. Sie saß auf der Schaukel und hatte den Kopf gesenkt. Er sah nur ihren Scheitel, der sich als Zickzacklinie über ihre hellrosa Kopfhaut zog. Zögerlich hob er seine große Hand und streichelte ihr schließlich über das Haar, ähnlich, wie man einen Hund tätschelte. Leonie zuckte zusammen, warf den Kopf zurück und schlug gegen seine Hand, allerdings nicht mit großer Kraft, es war mehr ein sanftes Wegschieben. »Lass mich doch«, wimmerte sie.
»Sag mir, was er mit dir gemacht hat. Ich mach ihn platt, ich schwör!«, sagte Niklas, der sich mühte, seiner Stimme genügend Festigkeit zu verleihen. Leonie musste wieder mit Tränen kämpfen. Schließlich fuhr sie auf: »Nichts hat er gemacht. Nichts! Das ist es doch! Alle anderen sind auf seiner Freundesliste, sogar du! Aber ich? Ich nicht! Alle anderen hat er zu seinem Fest eingeladen. Aber mich? Mich nicht!
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