Blinder Rausch - Thriller
macht sich dann auf den Weg. Zunächst fährt sie quer durch den Park. Es ist ein frischer Sommerabend, doch riecht es auch schon ein bisschen nach feuchter Erde und Herbstluft. Das liegt vielleicht an dem Brandgeruch, der vom Grillplatz herüberzieht. Der Himmel ist bewölkt, daher ist es schon sehr dämmerig. Als sie an der Bank vorbeikommt, hält sie an. Ein kleiner Lichtschein hat sie aufmerken lassen. An der Stelle nahe des Ufers, an der einmal die Stoffmaus lag, flackert jetzt ein Grablicht. Daneben liegt noch etwas Helles im Gras. Leonie geht vorsichtig hin und schaut nach. Es ist ein weißer Pappteller. Darauf steht mit schwarzem Edding geschrieben:
» … denn es ist ein Licht, das an einem finsteren Ort scheint, bis der Tag anbricht und der Morgenstern aufgeht in eurem Herzen. «
Wer schreibt so etwas? Denises Mutter? Ihr Bruder? Leonie liest den Spruch mehrfach durch. Sie versteht nicht so ganz, was gemeint ist. Einerseits klingt es nach Hoffnung. Aber der Hinweis auf den finsteren Ort klingt gruselig. Woher kommt dieser Spruch? Aus einem Gedicht? Nein, es klingt eher nach Bibel und Kirche. Leonie schwingt sich wieder auf das Rad. Ein klammes Gefühl steigt in ihr auf. Von Niklas ist weit und breit nichts mehr zu sehen. So soll es sein. Er soll nicht merken, dass sie ihm hinterherfährt.
Es ist bereits kurz vor halb zehn als sie im Industriegebiet ankommt. Die gepflasterte Straße ist mit alten Bogenlampen spärlich beleuchtet. Von den Gebäuden ringsherum geht kein Licht aus. Manche Fassaden sind neu gestrichen, an anderen bröckelt der Putz. Es gibt funselig angestrahlte Schilder, die auf verschiedene Firmen hinweisen, die es hier offensichtlich noch gibt. Doch jetzt am Wochenende ist auch hier niemand. In der Mitte eines kleinen Rondells befindet sich ein beschriftetes Modell des Viertels aus hellem Metall. Leonie beugt sich darüber. Sprayer haben sich auch hier verewigt, sodass manche Buchstaben nicht mehr erkennbar sind. Daimlerstraße liest sie und parallel dazu Rob… B… ße. Das wird die Robert-Bosch-Straße sein. Sie zweigt nicht weit von dem Rondell ab und ist eine von hohen Pappeln gesäumte, gerade Straße. Am Beginn gibt es einen großen Baumarkt mit einem weit ausladenden Parkgelände. Hinter den Schaufenstern des Marktes schimmert das fahle Nachtlicht und erhellt spärlich das Gelände davor. Die Parkplatzbeleuchtung in Form eines hohen Lichtmastes ist nicht eingeschaltet.
Leonie tritt in die Pedale und fährt weiter die Straße entlang. Die nächsten Gebäude sind abgebrochen und die Trümmerflächen sind weitgehend geräumt, sodass sich eine große Schuttwüste ausbreitet. In diesem Gebiet ist nur noch jede zweite Laterne intakt. Glassplitter auf dem Weg zeigen, dass sich wohl jemand einen Spaß daraus gemacht hatte, sie einzuwerfen. Die Straße endet als Sackgasse in einem Wendehammer. Von dort führt eine schmale Brücke, deren Metallkonstruktion sich wie ein schwarzer Scherenschnitt von dem hellen Streifen des westlichen Abendhimmels abhebt, über Bahngleise. Gerade braust mit großem Getöse ein langer Güterzug vorbei. Die Umrisse der Waggons und die Lücken dazwischen flackern als durchrasendes Hell-Dunkel-Muster hinter dem Bewuchs am Gleisrand auf. Dann kehrt wieder eine beklemme Stille in die Trostlosigkeit der zerstörten Landschaft ein.
Auf der rechten Seite vor der Brücke erhebt sich groß und dunkel die aus roten Steinen gemauerte Halle eines mächtigen, altmodischen Fabrikgebäudes mit hohen Gitterfenstern. Vor dem Gebäude bis zur Straße erstreckt sich ein großer, staubiger Platz, auf dem wie riesige Dominosteine verstreut mannshohe Holzkisten lagern. Leonie bleibt vorsichtig hinter dem Stamm einer alten Pappel stehen und betrachtet von dort aus die Anlage. Es gibt ein viele Meter hohes zweiflügeliges Schiebetor, in das eine weitere kleine Tür eingelassen ist. Auch rechts und links davon gibt es mehrere kleine Tore, die in das Innere führen. Rechts neben dem großen Tor führt eine frei schwebende Stahltreppe in mehreren Absätzen nach oben. In etwa 20 Meter Höhe liegt der letzte Absatz, der wie eine Art Balkon aussieht. Dort ist eine Tür. Sie steht weit geöffnet. Leonie hat mit der Schule schon einmal eine ähnliche Fabrik besichtigt. Im Innern der großen Halle gab es eine Art umlaufenden Balkon, von dem aus man hinab in die Halle blicken konnte. Von dort aus wurden die Kräne bedient, welche die schweren Teile in der Fertigungshalle von einer Stelle zur
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