Blinder Stolz: Thriller (German Edition)
erwartete.
Wieso überlegte er überhaupt? Wieso fuhr er nicht einfach weiter? Er hatte doch einen klaren Schlussstrich gezogen, oder etwa nicht?
Das war Unsinn. Unsinn, den er sich nicht einmal selbst abkaufte.
Er hatte keinen klaren Strich gezogen, sondern sich bei Nacht und Nebel davongemacht.
Er war abgehauen, weil er zu feige gewesen war, Abschied zu nehmen. Und die beiden Frauen, die er zurückgelassen hatte, waren bestimmt stinksauer, zutiefst enttäuscht und vielleicht sogar ein klein wenig traurig.
Abgesehen von ihren verletzten Gefühlen gab es noch etwas anderes, was ihn nicht losließ, obwohl er doch zusehen sollte, dass er endlich aus diesem verdammten Texas herauskam.
»Scheiße.« Er nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette und warf sie aus dem Fenster. Mit einem derben Fluch legte er den Automatikhebel vor und schoss quer über vier Fahrspuren, um die linke Abzweigung noch zu erwischen.
»Eigentlich dürften Sie gar nicht hier sein. Haben Sie die Schilder etwa nicht gelesen? Die Besuchszeiten sind längst vorbei.«
Dodge wandte sich vom Bett ab. Die Schwester, die sich im Türrahmen aufgebaut hatte, war höchstens einsfünfzig groß, etwa genauso breit und trug eine Kluft mit aufgedruckten Clownsgesichtern. Ihr Haar war zu Zöpfen frisiert, die ihr bis über die Schultern reichten und an deren Enden bunte Perlen baumelten.
Er schenkte ihr sein schönstes Strahlelächeln. »Ihr Haar gefällt mir.«
Sie stemmte eine Hand von der Größe einer kleinen Schinkenkeule in ihre ausladende Hüfte.
Dodge kapierte sofort und änderte die Taktik. »Ich muss das Schild übersehen haben«, erklärte er reumütig.
»Ja, ja«, sagte sie, als hätte sie diesen Spruch schon tausend Mal gehört, kam hereingewatschelt und blickte auf die winzige Gestalt im Bett hinunter. »Wie geht’s Ihnen, Schätzchen? Wollen Sie sich vielleicht aufsetzen und ein bisschen mit dem Gentleman hier plaudern?«
Mit unübersehbarem Mitgefühl strich sie über das kurz geschnittene weiße Haar der Patientin. Die Augen der Frau, die Oren Starks das Leben geschenkt hatte, waren zwar geöffnet, doch ansonsten zeigte sie keinerlei Anzeichen einer bewussten Wahrnehmung.
»Ist sie immer so, Glenda?«, erkundigte sich Dodge mit einem Blick auf das Namensschild über ihrer Brust.
Sie musterte ihn von oben bis unten. »Gehören Sie zur Familie?«
»Ich bin ein Freund der Familie.«
»Kennen Sie den Sohn, der erschossen worden ist? Wir haben es heute Morgen erfahren.«
»In Wahrheit hat er sich selbst erschossen. Ich hatte nie das zweifelhafte Vergnügen, ihn persönlich kennenzulernen, weiß aber eine ganze Menge über ihn. Er hat ein paar ziemlich schlimme Dinge getan.« In einem seltenen Anflug von Redseligkeit fügte er hinzu: »Ich war dabei, als er geschnappt wurde.«
»Oh.« Wieder unterzog ihn Glenda einer eingehenden Musterung. »Sie sehen aus wie ein Cop. Tragen Sie eine Waffe?«
Er kehrte ihr den Rücken zu und hob den Saum seines Jacketts.
»Waffen sind hier aber nicht erlaubt«, schnaubte sie.
»Offenbar habe ich auch dieses Schild übersehen.«
Sie schnalzte tadelnd mit der Zunge, als wäre er ein hoffnungsloser Fall, und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der Patientin zu. »Ich glaube nicht, dass der Tod ihres Jungen ihr viel ausmacht.«
»Wie lange ist sie schon in diesem Zustand?«
»Der Prozess ist schleichend. Das ist bei dieser Krankheit üblich. Aber seit etwa einem Jahr reagiert sie überhaupt nicht mehr. Einige meiner jämmerlichen Kollegen hier lassen sie völlig links liegen. Reden kein Wort mit ihr. Aber ich kümmere mich um sie. Wir unterhalten uns regelmäßig.« Sie zupfte ein Papiertaschentuch aus einer Schachtel auf dem Nachttisch und wischte eine Speichelspur von Mrs Starks’ schlaffen Lippen. »Ist es nicht so, Herzchen? Sie können jederzeit etwas sagen, wenn Sie Lust haben.«
»Sie sind eine wahre Heilige, Glenda.«
»Und Sie ein elender Schleimer.«
»Nein, ich meine es ernst.«
»Ich auch.« Doch sie grinste.
Er lachte. »Erwischt.«
»Also, was wollen Sie hier, Mr Cop?«
»Keine Ahnung.«
»Keine Ahnung?«
»Nein. Und das ist mein voller Ernst.« Er betrachtete Mrs Starks nachdenklich. »Schätzungsweise habe ich gehofft, dass sie Licht ins Dunkel bringen kann.«
»Wie denn?«
»Na ja, indem sie mir etwas über Oren verrät, das erklärt, wieso er auf einmal komplett ausflippt, eine Frau, einen sechzehnjährigen Jungen und einen alten Mann tötet und noch auf dem Sterbebett
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