Blinder Stolz: Thriller (German Edition)
gesehen und erlebt, als dass ihm die Grausamkeit, die ein Mensch einem anderen zufügte, noch nahegegangen wäre. Ihn brachte so schnell nichts aus der Fassung. Oh, der Anblick hungernder Kinder in Afrika oder amerikanischer Soldaten, die im Namen des Gottes irgendwelcher Fanatiker brutal zerfetzt wurden, ließ ihn natürlich nicht kalt, doch war es eher Wut als Mitleid, was er empfand. Für Mitleid war nur sehr wenig Platz im Herzen eines überzeugten Zynikers. Dasselbe galt auch für alle anderen Sentimentalitäten.
Er hatte geglaubt, er sei gewappnet, seine Tochter zu sehen. Schließlich hatte er sie nie kennengelernt; er war niemals Teil ihres Lebens gewesen und hatte keine innere Bindung zu ihr aufgebaut, nur um danach erleben zu müssen, wie sie ihm entrissen wurde. Es gab keine Fotos von ihnen beiden, er teilte keine Erinnerungen mit ihr so wie mit Caroline.
Abgesehen vom Blut, das in ihren Adern floss, gab es nichts, was ihn mit seiner Tochter verband. Er war davon ausgegangen, ein leises Flattern in der Magengegend zu spüren oder vielleicht feuchte Hände zu bekommen, mehr aber auch nicht. Und dass diese Regungen genauso schnell verfliegen würden, wie sie gekommen waren.
Aus diesem Grund traf ihn die Wucht der Gefühle völlig unvorbereitet, als er und Caroline um die Ecke des Krankenhausflurs bogen.
Kaum fiel sein Blick auf die schlanke junge Frau mit dem kastanienbraunen Haar, schien es, als erwache ein instinktiver Erkennungsmechanismus in jeder einzelnen Zelle seines Körpers zum Leben; so als gingen sie in Habachtstellung und verkündeten lautstark: »Ja, die kenne ich.«
Sein Herzschlag drohte auszusetzen. Er musste sich beherrschen, sich nicht die Hand auf die Brust zu pressen und nach Luft zu schnappen. In seinen Ohren rauschte es. Ihm war schwindlig, und seine Beine drohten unter ihm nachzugeben, sodass er beinahe nach Carolines Arm greifen und sich an ihr festhalten musste.
Noch verblüffender als all die körperlichen Reaktionen waren aber die Gefühle, die ihn überkamen – ein dumpfes Ziehen tief in seinen Eingeweiden, ein Gefühl der Enge in der Brust, ein heftiges Stechen, das sich in seine Seele zu bohren schien, allesamt von schmerzhafter Intensität.
Diese bildschöne junge Frau, deren Haar, Augen und Teint dieselbe Farbe hatten wie Carolines, war seine Tochter, sein Fleisch und Blut – ein Wunder, dessen Anblick ihn zu überwältigen drohte. Zum zweiten Mal. Nur war er beim ersten Mal zu jung, zu dumm und viel zu verliebt in ihre Mutter gewesen, um das Wunder der Geburt in seiner Gänze zu erfassen.
Und zugleich spürte er einen Impuls in seinem Innern, der ihn noch mehr verblüffte; einen Impuls, der seinen körperlichen und emotionalen Regungen in nichts nachstand: Von einer Sekunde zur nächsten mutierte er zu einer Art Conan, der Barbar; einem Geschöpf, das sein Fleisch und Blut notfalls mit der Rohheit eines wilden Tiers beschützen und verteidigen würde. Gott möge jedem helfen, der es wagte, seiner Tochter etwas anzutun. Er würde ihm bei lebendigem Leib das Herz herausreißen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.
Ja, angesichts all dieser neuen und überwältigenden Gefühle, die in ihm tobten, war es nur gut, dass er nichts zu sagen brauchte. Aber Gott (oder wer auch immer bei dieser Show hier das Sagen hatte) ließ Gnade walten und ihn die nächsten Sekunden überstehen, ohne sich komplett zum Narren zu machen.
Es gelang ihm, obwohl seine Knie sich spontan aufgelöst zu haben schienen, halbwegs normal neben Caroline den Korridor entlangzugehen. Doch so groß seine Freude, Berry zu sehen, auch sein mochte, hatte Caroline ihn gewarnt, sie sei nicht sicher, wie Berry reagieren würde, wenn sie erfuhr, dass ihr Vater vor ihr stand.
Vielleicht wäre sie genauso nervös wie er. Vielleicht würde sie ihm auch ins Gesicht spucken, sich weigern, ein Wort mit ihm zu wechseln. Durchaus möglich, dass sie einen Wutanfall bekam und tobte, oder aber sie stieß einen entsetzten Schrei aus und fiel in Ohnmacht. Wie auch immer ihre Reaktion ausfiel – er würde damit leben müssen. Mit dem Besten konnte er nicht rechnen, verdient hätte er das Allerschlimmste, und innerlich war er auf alles gefasst.
Doch der gefürchtete Moment der Wahrheit würde noch ein wenig warten müssen, denn im Augenblick war Berry mit anderen Dingen beschäftigt. Dodge und Caroline waren nahe genug herangekommen, um den Wortwechsel zwischen ihr und der zierlichen Blondine mit dem wutverzerrten
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