Blinder Stolz: Thriller (German Edition)
dieses beschissene Foto aus der Personalakte von Delray, das er schon immer gehasst hatte. Da war das Foto in seinem Führerschein schon wesentlich schmeichelhafter. Auf dem Personalfoto schien seine Stirn viel zu hoch, die Augen standen zu dicht beisammen, und sein Kinn wirkte leicht fliehend.
Wie groß war die Wahrscheinlichkeit , dass er sich mit einer Katastrophe konfrontiert sah, mit der er nicht gerechnet hatte und von der er nicht wusste, wie er sie bewältigen sollte?
Die Wahrscheinlichkeit war ähnlich groß wie die, als Mike Reader sich das Genick brach, weil Oren ihn vom Karussell schubste. Der Sommer, in dem Oren neun wurde, war ein echter Rekordsommer gewesen, mit derart hohen Temperaturen, dass die meisten Kinder in Beaumont, Texas, lieber zu Hause blieben. Deshalb waren Oren und Mike Reader an diesem schicksalhaften Nachmittag ganz allein auf dem Spielplatz gewesen.
Oren stellte sein Fahrrad ab und näherte sich dem anderen Jungen mit einer Mischung aus Argwohn und Ehrfurcht. Mike war ein bekannter Schläger, der nicht nur zwölf Pfund schwerer, sondern auch mindestens einen Kopf größer war als er. Trotzdem war Oren froh über die Gelegenheit, bei einem beliebten Klassenkameraden ein bisschen Eindruck zu schinden. Sollten Mike und Oren sich in diesem Sommer anfreunden, würden auch Mikes zahlreiche Freunde Oren akzeptieren, wenn nach den großen Ferien die Schule wieder anfing.
Mike hingegen freute sich nur, Oren zu begegnen, weil er so jemanden hatte, den er drangsalieren konnte. Er lud Oren ein, eine Runde Karussell mit ihm zu fahren. Freudig stieg Oren auf. Doch in diesem Moment sprang Mike ab, packte eine der Eisenstreben und stieß das Karussell mit aller Kraft an, wieder und wieder und wieder, bis der Spielplatz in einem wilden Wirbel verschwamm. Oren klammerte sich fest, so gut er nur konnte, und wimmerte vor Angst.
Mike ließ das Karussell los und sprang zur Seite. Er begann sich über Oren lustig zu machen, weil er keinen Vater hatte, und als Oren schrie, er hätte sehr wohl einen Daddy gehabt, aber er sei gestorben, johlte Mike und lachte ihn aus, er sei doch bloß ein Muttersöhnchen. Nein, das stimme doch gar nicht, stammelte Oren, doch Mike Reader ließ sich nicht beirren und begann, lautstark einen Reim zu skandieren.
Mikes grausame Hänseleien fanden ein abruptes Ende, als Oren die Eisenstrebe für einen kurzen Moment losließ und Mike Reader mit beiden Händen einen kräftigen Stoß verpasste. Mike, der nicht mit Orens mutigem Widerstand gerechnet hatte, geriet ins Straucheln und stürzte rückwärts auf den festgebackenen Boden. Oren hörte ein Knacken, als hätte jemand einen Zweig über dem Knie zerbrochen.
Oren blieb auf dem immer langsamer werdenden Karussell stehen, während Mikes Gestalt wieder und wieder an ihm vorübersauste, bis es zum Stillstand kam. Erst dann stieg er ab und ging zu dem Jungen, der reglos auf dem Boden lag. Seine Blase und sein Darm hatten sich im Augenblick seines Todes entleert – eine Art ausgleichender Gerechtigkeit, wenn man die Gemeinheiten bedachte, die er Oren noch vor wegen Minuten an den Kopf geworfen hatte.
Oren wäre gern noch eine Weile vor dem toten Mike stehen geblieben und hätte sich an seinem Anblick geweidet, doch stattdessen zog er eilig sein Hemd aus und wischte damit sämtliche Fingerabdrücke ab, die er womöglich auf dem Karussell hinterlassen hatte. Dann zertrat er die Spuren seiner Turnschuhe auf der vertrockneten Erde vor dem Karussell. Hochzufrieden, sämtliche Beweise beseitigt zu haben, dass er jemals hier gewesen war, stieg er auf sein Rad und fuhr nach Hause, bevor ihn noch jemand sah, sorgsam darauf bedacht, auf dem Asphalt zu bleiben, um bloß keine weiteren Spuren zu hinterlassen.
Bis zum heutigen Tage galt Mike Readers Tod als tragischer Unglücksfall.
Und seit jenem heißen Sommernachmittag hatte Oren das Bedürfnis, jeden zu töten, der ihm das Leben zur Hölle machte. Er sehnte sich danach, jedem, der ihn drangsalierte, dasselbe Schicksal angedeihen zu lassen wie Mike Reader. Doch hatte er sich das stets selbst ausgeredet, weil die meisten es nicht wert waren, sich wegen ihnen erwischen zu lassen.
Aber Berry Malones Verrat war eine Klasse für sich. In ihrem Fall musste er Vergeltung üben.
Er hatte sich geschworen, dass sie sterben würde. Und an diesen Schwur würde er sich halten. Doch sein ursprünglicher Plan war gründlich schiefgelaufen, und nun würde er, wenn er nicht aufpasste, wegen Mordes an
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