Blindes Grauen
»Erzählen Sie mir von Bolligrew.«
King zog eine Zigarette heraus, steckte sie sich in den Mund, zündete sie aber nicht an. »Ich rauche weniger«, sagte er. »Nur noch zwei Päckchen am Tag.« Er stieß ein harsches, schleimiges Lachen aus. »Ich sag Ihnen, wer es war«, sagte er. »Der Junge war’s!«
Gooch runzelte die Stirn. Was redete er da? »Sie hatte eine Tochter. Lane. Sie war elf.«
»Nein, nein, nein. Sie haben doch die Akte gelesen, oder? Ich rede von dem Sohn.«
Gooch war erstaunt.
»Was für ein Sohn?«
King schaute ihn mit einem Hauch amüsierter Arroganz an. »Sie haben die Akte nicht gelesen?«
»Ich habe die Akte gelesen.«
Jetzt schaute King erstaunt. »Ich habe den Sohn verhört. Kathleen Bolligrew hatte einen Sohn, der war neunzehn, als sie ermordet wurde. Der Junge hieß Nathan Morris. Morris war Bolligrews Mädchenname. Genau genommen hieß sie nach der Heirat Morris-Bolligrew. Sie hat sich bei der Heirat für den Bindestrich entschieden. Ein paar Jahre später war sie geschieden. Aber es war zu kompliziert, den Bindestrich zu erklären, also nannte sie sich einfach nur Bolligrew. Aber offiziell blieb ihr Name Morris-Bolligrew. Wie auch immer, dieser Nathan war zur Welt gekommen, als Kathleen ungefähr fünfzehn war. Natürlich war sie damals nicht verheiratet. Sie hatte ihn nicht wirklich großgezogen – das haben vor allem ihre Eltern getan – und dafür hasste er sie. Er war nicht der gelassene Typ, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Es ist kein Gespräch mit ihm in der Akte.«
»Na ja, hey, ich hab ihn dreimal vernommen. Einmal bei ihm zu Hause, einmal bei seinem Anwalt, und schließlich habe ich ihn auf die Wache geholt. Ein wirklich arroganter kleiner Sack.«
»Ich sage Ihnen, davon steht nichts in der Akte.«
»Wie auch immer«, sagte King. »Ich sage nur, ich bin todsicher, dass es der Junge war.«
»Es war eine Vergewaltigung mit anschließendem Mord. Wollen Sie sagen, dass er seine eigene Mutter vergewaltigt hat?«
»Ich glaube schon, ja. Dieser Junge? Ein typischer Soziopath. Hatte schon von Anfang an eine Schraube locker. Es gab einen Haufen Beschwerden über ihn. Gewalttätig Tieren gegenüber, chronischer Lügner, wenig Mitgefühl – alle Standardanzeichen eines erstklassigen Monsters. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich glaube nicht, dass er es getan hat, weil er wütend war. Die Vergewaltigung war bloß ein Ablenkungsmanöver, damit es aussah wie irgendein Perverser. Aber Nathan war es. Wegen des Geldes.«
»Geld?« Gooch wurde langsam sauer. Offensichtlich fehlte eine Menge aus der Akte. »Was für Geld? In der Akte steht, dass ein paar Schmuckstücke fehlten. Da ist keine Rede von irgendwelchem Geld.«
»Nein, nein, Mann. Es war so. Kathleen Bolligrews alter Herr war ein sehr erfolgreicher Banker. Ihm gehörte ungefähr die Hälfte eines dieser drei Sumpf-Counties nördlich von Sa-vannah. Eine Menge Asche. Es gab einen Treuhänderfonds. Ein Riesending. Zehn, zwölf Millionen Mäuse, irgendwie so.
Der Großteil des Geldes ging an Kathleen – aber auch ein bisschen an Lane und ihren Bruder, Nathan. Aber das Geld für Nathan? Dafür musste er was tun.«
»Was soll das heißen?«
»Um seine Kohle zu kriegen, musste Nathan einen Haufen Bedingungen erfüllen. Er musste an der Uni bleiben, musste bestimmte Noten bringen, musste ab und zu einen Piss-Test bestehen und damit nachweisen, dass er nicht auf Drogen war. Aber Nathan hat’s nicht gemacht. Er wollte die Bedingungen nicht erfüllen. Ergo, kein Geld.«
»Was hat das mit dem Mord zu tun?«
»Wenn seine Mutter starb, dann kriegte er einen Haufen Asche, zusammen mit seiner Schwester Lane.«
»Sie wollen sagen, wenn er seine Mutter umbringt, erbt er Geld.«
»Er hat gedacht, so würde es laufen. Deswegen hat er eine Vergewaltigung mit Mord daraus gemacht. Ich vermute, er wollte auch Lane umbringen. Aber sie hat sich versteckt und ist ihm entkommen.«
»Was soll das heißen, er dachte, so würde es laufen?«
»Nach dem Mord hat der Treuhänder es hin und her gedreht, bis Nathan doch keinen Cent sah. Ich glaube, er war ebenfalls der Überzeugung, dass Nathan den Mord begangen hatte. Also wollte er dafür sorgen, dass Nathan nicht das Geld bekam. Wie gesagt, der Vertrag war nicht einfach. Der Anwalt konnte alle möglichen Einwände erheben, alles ewig verschleppen. Soweit ich weiß, hat Nathan ihn verklagt. Aber irgendwann haben sie sich geeinigt. Das war allerdings, nachdem ich aus dem Dienst
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