Blindwütig: Roman
ich sie mit einer einzigen Patrone. Ich wollte mich umbringen.«
Eine ganze Weile schon hatte ich nichts mehr erwidert. Nichts, was ich hätte sagen können, wäre von Belang gewesen. Er musste mich nichts sagen hören, um zu wissen, dass ich ihm lauschte.
Seine Stimme klang lebloser denn je: »Aber vielleicht hatte ich nicht den Mut dazu, oder ich hatte so lange an die Unantastbarkeit des Lebens geglaubt, dass ein Selbstmord mir selbst jetzt gar nicht möglich war. Außerdem merkte ich allmählich, dass ich mir mehr wünschte, Waxx zu töten als mich selbst. Da habe ich die Pistole mit neun weiteren Patronen geladen und auf ihn gewartet. Drei Tage vergingen, dann läutete das Telefon. Waxx sagte nur: ›Veranda.‹ Und auf der hinteren Veranda fand ich eine DVD.«
Offenbar sah Penny an meinem Gesichtsausdruck und meiner Körperhaltung, dass ich von dem Grauen, das ich hörte, fast gelähmt war. Meine linke Hand lag zur Faust geballt auf meinem Oberschenkel, und Penny umschloss sie fest mit der Rechten.
»Einen ganzen Tag lang habe ich es nicht geschafft, mir die DVD anzuschauen. Dann tat ich es. Ich sah meine Töchter, die an eine Wand gekettet waren. Er hatte ihnen offenbar versprochen, sie zu verschonen, wenn sie taten, was er ihnen eingetrichtert hatte, denn sie flehten weinend in die Kamera: ›Daddy, tu uns nicht mehr weh. Daddy, mach uns los.‹ Und dann … und dann sind sie … und dann wurde es so schlimm, dass ich abschalten musste. Ja, die DVD war ein Beweisstück, aber eines, das nicht ihn , sondern mich belastete.«
Wenn wir weiter durch den kalten Regen und die schwarze Nacht fuhren, dann würden wir irgendwann frontal auf etwas
aufprallen, nicht auf eine Mauer, sondern auf eine Dunkelheit, die sich verfestigt hatte, auf das reine, personifizierte Böse, das in Shearman Waxx Ausdruck gefunden hatte.
»Was er mit ihren Leichen gemacht hat, weiß ich nicht. Seither habe ich es geschafft, am Leben zu bleiben. Ich habe gehofft, ihn finden und töten zu können. Inzwischen ist mir klar, dass das eine Illusion war. Er ist unantastbar. Er ist die Nacht selbst.«
Clitherow schwieg einen Augenblick, dann schweifte er in trübe philosophische Gedanken ab. »Die Unschuldigen sterben, die Böswilligen gedeihen. Mit ihrer abgefeimten Fähigkeit, die Wahrheit auf den Kopf zu stellen, geben Verbrecher sich als edel aus, und allzu viele Menschen handeln gegen jede Vernunft, werfen sich vor ihnen nieder und nehmen klaglos jede Form der Sklaverei hin.«
Früher hatte Clitherow einmal daran geglaubt, dass bei der Allgemeinheit normalerweise ein gesunder Menschenverstand vorherrschte, und nun schien er von seinem trostlosen Urteil selbst überrascht zu sein, denn er sog scharf die Luft ein und kam nach einer kurzen Pause wieder auf Waxx zu sprechen: »Er ist unantastbar und rastlos. Ihr meint jetzt, Cullen, ihr wärt ihm entkommen. Aber er wollte gar nicht, dass einer von euch bei der Explosion eures Hauses stirbt. Er wollte es euch nur wegnehmen. Wenn ich nicht angerufen hätte, um zu sagen, ihr sollt fliehen, dann hätte er euch selber gewarnt.«
Wenn das stimmte, dann hatte Waxx unsere Telefone angezapft gehabt und nicht nur gewusst, dass ich von Clitherow angerufen worden war, sondern auch, was er zu mir gesagt hatte.
»Cullen, er wollte nicht, dass einer von euch bei der Explosion stirbt, weil er uns langsam zerstören will, Schritt für
Schritt, nicht auf einmal. Und jetzt bin ich im Turm von Paris mit …«
Ich hörte ein gleichermaßen klägliches wie erbarmenswertes Geräusch und dachte zuerst, Clitherow sei plötzlich wieder von seinen Gefühlen ergriffen worden, so dass er nun vor Kummer fast erstickte.
Wenige Sekunden später wurde mir klar, dass dies kein Kummer war, sondern Todesqualen. Vorangegangen war ein anderes Geräusch, das nicht aus dem Mund von Clitherow stammte, ein Schlitzen, grausig und feucht. Ich hörte, wie ein Mensch ermordet wurde.
Das Telefon glitt ihm aus der Hand und fiel klappernd zu Boden, ohne dass die Verbindung abbrach. Nun war das Stöhnen etwas weiter entfernt.
Dann schlug ein Körper dumpf auf dem Boden auf. Offenbar lag Clitherows Kopf neben dem Telefon, denn ich konnte ihn deutlich hören. Er schien gleichzeitig nach Luft zu ringen und sich zu erbrechen.
Mir kam in den Sinn, dass man ihm wohl die Kehle aufgeschlitzt hatte, so dass er nun an seinem eigenen Blut erstickte.
Sosehr ich ihm wünschte, dass seine Qualen rasch zu Ende gingen, hoffte ich doch auf ein
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