Blitz: Die Chroniken von Hara 2
seufzte unvermittelt und setzte eine Miene auf, als hätte sie ein vergiftetes Stilett geschluckt, um dem Mann dann den Krug aus der Hand zu reißen und den Inhalt gegen die Wand zu schütten. Das Wasser erstarrte in der Luft, färbte sich silbrig ein und verwandelte sich in einen Spiegel.
Mit stockendem Atem beobachtete Shen diesen Vorgang, von dem er bisher nur in alten Abhandlungen gelesen hatte. Das Silberfenster! Dieser lang verloren geglaubte Zauber! Sosehr sich die Schreitenden auch bemüht hatten, sie hatten ihn nie wirken können. Das Äußerste, was sie zustande brachten, war eine dunkle Oberfläche und ein verzerrtes Geräusch, bei dem man nur mit äußerster Mühe verstand, was der Gesprächspartner sagte, nicht mehr als ein schaler Abklatsch jenes legendären Silberfensters also. Obendrein hatten danach alle, die es versucht hatten, wochenlang unter stechenden Kopfschmerzen gelitten, die ihnen jede Möglichkeit nahmen, ihre Gabe anzurufen.
In Typhus’ Fenster erschien nun das Bild eines jungen blonden Mannes, der eine funkelnde Rüstung trug. In ihm erkannte Shen den Verdammten Schwindsucht, dessen Portrait er im Turm gesehen hatte.
»Ich bin da«, teilte er Typhus mit.
Daraufhin platzte der Spiegel. Auf dem Boden bildete sich eine kleine Pfütze.
»Farid«, sagte die Verdammte nach kurzem Schweigen.
»Ja, Herrin«, erwiderte der Nekromant und legte das Buch, in dem er gerade gelesen hatte, zur Seite.
»Zieht die Leiche in den Kreis! Rasch!«, befahl Typhus den Untoten und zeigte auf den Soldaten, der vorm Fenster lag, um sich dann erneut an Farid zu wenden. »Ich brauche deine Kraft. Wir werden nämlich auch noch den Flatterer der Tiefe schaffen.«
Der Nekromant runzelte die Stirn, räusperte sich und brachte vorsichtig heraus: »Ich fürchte, diesen Zauber beherrsche ich nicht, Herrin. Obendrein ist der Turm …«
»Hörst du schlecht, Farid? Ich habe gesagt, ich brauche deine
Kra
f
t.
Den Zauber wirke ich. Und wegen der Schreitenden mach dir keine Sorgen. Die werden schon bald ganz andere Probleme haben und sich gewiss nicht um uns kümmern.«
Damit machten sie sich ans Werk: Der Schädel am Hilss erfüllte sich mit Leben und fauchte grimmig, das Ornament auf dem Boden leuchtete in einem blauen Licht auf, die von der Decke baumelnde Leiche öffnete die Augen, in denen jetzt ein grünes Licht loderte, und krächzte heiser. Der Körper zuckte, einmal, zweimal, dreimal. Dann hüllte sich alles in ein grelles Licht, das einfach nicht erlöschen wollte.
Shen kniff die Augen zusammen, doch das half wenig. Das beißende Licht der Magie schien ihm selbst durch die geschlossenen Lider hindurch die Augen zu versengen. Er wusste nicht, was in diesem Saal vor sich ging, er hörte nur die Stimme des Nekromanten, der in einem Singsang einen Zauberspruch vortrug, und nahm an, dass auch die Verdammte nicht untätig blieb. Die Kraft, die sich nun im Raum ausbreitete, hätte Steine zum Schmelzen bringen müssen …
Doch mit einem Mal endete alles. Das Feuer des Ornaments auf dem Boden fraß sich langsam in die alten Dielen, der Hilss gab nur noch ein fahles Leuchten ab. Dafür fanden sich anstelle der beiden Toten nun zwei Wesen im Raum, sodass der Saal sofort eng wirkte.
Das erste Geschöpf saß gekrümmt an der Wand, hatte die langen, spindeldürren Beine ans Kinn gezogen und stieß beinahe mit dem Kopf gegen die Decke. Haut hatte er keine. Gelbliche Rippen umspannten die eingefallene Brust gleich einem soliden Harnisch, um das tote Herz zu schützen. Die kräftigen Arme verfügten über einen Yard lange Stacheln an den Ellbogen, während gewaltige stählerne Krallen den Rest des Bodens aufkratzten. Auf dem Kopf mit den schwarzen Augenhöhlen und den halb herausgerissenen Wangen (weshalb die zu einem sardonischen Grinsen verzogenen scharfen Zähne zu sehen waren) ragten sechs spitze Hörner auf. Was das für ein Geschöpf war und wie es hieß, wusste Shen nicht. In keinem Bestiarium des Turms hatte er je eine solche Kreatur gesehen.
Das zweite Wesen erinnerte an ein Pferd mit einem menschlichen Schädel. Es hatte einen knochigen, breiten Rücken und sechs Beine, jedes von ihnen so zart wie das einer Heuschrecke.
Nimmt das denn nie ein Ende?, dachte Shen verzweifelt.
Es kostete Thia viel Kraft, dem Flatterer der Tiefe ihren Willen aufzuzwingen. Obwohl sie die in ihrer gegenwärtigen Lage kaum aufbrachte, sträubte sie sich dagegen, in den Körper eines Toten überzuwechseln, um ihrer Gabe auf diese
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