Blondine ehrenhalber
schockiert.
»Dieser Artikel. Er hat ihn gelesen und wäre beinahe umgekippt bei der Arbeit«, sagte sie. »Todd hat ihn nach Hause geschickt. Paul war völlig am Ende. Ich habe ihn noch nie so fertig gesehen. Schließlich hat er mir alles erzählt. Dass er seit Jahren in dich verliebt ist und deshalb oft zu den unmöglichsten Zeiten arbeitet, weil er hofft, du könntest auf einen Drink vorbeikommen. Dass er versucht hat, sich über die Männer, die du im Schlepptau hattest, lustig zu machen, damit du das Interesse an ihnen verlieren solltest. Dass er dir Drinks kostenlos gibt und sich dafür einsetzt, dass du dein Essen schneller serviert bekommst. Ich habe die Mädchen wegschicken müssen, weil ich nicht wollte, dass sie ihren Vater so sahen.«
Amanda war sprachlos. »Ich habe nicht... Ich war nicht... Du glaubst doch nicht...«
»Er hat mir gesagt, dass du nie... dass nichts passiert ist«, sagte sie. »Dass du ihn als Freund betrachtest. Aber als Todd ihm riet, er solle lieber für ein paar Tage der Bar fernbleiben, ist er bei dem Gedanken, dich nicht mehr zu sehen, völlig zusammengebrochen. In den sieben Jahren, in denen ich mit Paul verheiratet bin, habe ich ihn niemals weinen sehen. Ich kann nicht fassen, dass ich nicht selbst oben sitze und heule.« Amanda hatte nie etwas von Pauls heimlicher Liebe mitbekommen. Seltsam. Zu merken, wenn Männer sich von ihr angezogen fühlten, war doch eigentlich ihre Spezialität.
»Sie Arme!«, war alles, was Amanda herausbrachte.
»Ich weiß nicht genau, wie ich reagieren soll. Verlassen will er mich nicht. Er liebt mich, sagt er. Paul war in den letzten Jahren so geistesabwesend. Emotional erwarte ich von ihm nicht mehr sehr viel, denn ich habe mein eigenes Leben, meinen Ehrgeiz, die Mädchen. Allein zu sein hat mir nichts ausgemacht. Aber jetzt — vielleicht wegen dir — ist mir nach Reden zumute. Hast du etwas Zeit für eine Tasse Kaffee?«
Amanda zuckte die Achseln. Vor lauter Überraschung brachte sie noch immer kein Wort heraus. Sylvia deutete das als Ja. Sie sagte, sie wolle die Mädchen oben in die Wohnung lassen und dann gleich wieder herunterkommen. Amanda solle unten auf sie warten. Draußen war es inzwischen stockfinster, obwohl es erst gegen 17 Uhr war. Amanda schaute Sylvia nach, die zum Aufzug ging. Sie stand da, zur Statue erstarrt und wie gelähmt von den Ereignissen des Tages. Die Planeten mussten ja komisch zueinander stehen. Nach einigen Augenblicken löste sie sich aus ihrer Benommenheit. Ohne einen Blick zurückzuwerfen, rannte sie aus der Halle, die Straße hinauf und um die Ecke. Sie wäre weitergerannt, aber es war kalt und sie war nicht in bester Verfassung. Deshalb verlangsamte sie ihr Tempo zu einem Spazierschritt und atmete einige Male tief durch. Ein, aus, und noch mal. Nachdem sie das mehrmals getan hatte, kam sie zu der bemerkenswerten Erkenntnis: Atmen war wie Aspirin. Jetzt brauchte sie einen Scotch.
Stattdessen lief sie weiter. Es tat gut, draußen an der frischen Luft zu sein, auch wenn es sehr kühl war. Im Winter wurde es bald dunkel und die Dunkelheit schützte sie vor bedrohlichen Blicken. Sie hielt den Kopf gesenkt und sah, wie ihre Collegeschuhe einen Schritt nach dem anderen machten. Sie wusste nicht, wie lange sie schon so gelaufen war, als sie plötzlich ein Schauer überlief. Sie schaute auf und befand sich am oberen Ende der Joralemon Street — bei Chicks Block. Bilder der morgendlichen Szene schossen ihr durch den Kopf. Sie wagte sich weiter und stand schließlich vor Chicks Haus. Ein gelbes Absperrband der Polizei verhinderte den Zugang zum abgeriegelten Areal an der Treppe. Auch die Mülltonnen waren anscheinend nicht zugänglich. Amanda blickte sich um, ob sie beobachtet wurde. Dann kroch sie unter dem Band durch. Im Dunkeln waren Blutspuren schlecht auszumachen. Sie hatte angenommen, dass Chick in seiner Wohnung gestorben war. Aber wie die Sache aussah, war seine Leiche draußen, praktisch auf der Straße gefunden worden.
Amanda hörte ein metallenes Klicken und versteckte sich im Hohlraum unterhalb der Außentreppe. Einer von Chicks Nachbarn verließ das Haus. Sie wollte nicht innerhalb des von der Polizei abgeriegelten Areals gesehen werden. Es war vermutlich sowieso eine große Dummheit gewesen, überhaupt hierher zu kommen und Fasern, Haare und sonstige Beweisstücke ihrer Anwesenheit am Tatort zu hinterlassen — aber jetzt war es zu spät. Sie verfluchte sich im Stillen und wartete ab, bis der
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