Blood Lily Chronicles 02 - Zerrissen
Dank hatte Alice Gracie von den Visionen erzählt, die sie als Kind gehabt hatte. Andernfalls wäre sie wahrscheinlich auf und davon. Die Vision, die ich gesehen hatte, war so schlimm, dass selbst ich beinahe auf und davon wäre - eine Frau auf einem Steintisch gefesselt, um Dämonen geopfert zu werden. Wer die Frau war, hatte ich nicht sehen können. Jetzt erkannte ich, dass ich Gracie in einer möglichen Zukunft gesehen hatte. Damals dachte ich, es handle sich um Alice - eine Art verschüttete Erinnerung oder so ähnlich. Ich hatte noch nicht ganz verstanden, wie diese Visionen funktionierten, deshalb war ich nicht wachsam genug gewesen. Und weil ich nicht auf der Hut gewesen war, hatten sich die Dämonen ein anderes Opfer geschnappt. Rose.
Noch einmal würde ich das nicht zulassen. Irgendetwas Verdächtiges im Kopf dieser Frau, und sie würde weit vom Pub wegbleiben. Sehr weit.
»Ich würde es gern noch mal probieren«, sagte ich.
»Was? Ich soll einer von deinen Visionen zuschauen?«
»So ähnlich.«
Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum. »Bist du dir da sicher?«
»Wenn du deinen alten Job wieder haben willst, ist das meine Bedingung.«
»Ganz schön krass!«
»Ich bin eben ein krasses Mädchen.«
Jetzt musste sie lachen. »Na gut. Meinetwegen.« Sie streckte mir die Arme entgegen. »Auch nicht seltsamer, als wenn mir jemand aus der Hand liest, oder?«
Ich fand das schon ein wenig seltsamer, aber das behielt ich für mich. Ich fasste sie bei den Händen, schaute ihr in die Augen und wartete, bis sich die Welt veränderte, von Bunt über Rot zu Grau überging.
Es dauerte nur eine Sekunde. Eine Sekunde, ehe ich durch ihren Kopf rauschte. Ich hätte vorher vielleicht üben sollen, denn so sah ich lediglich Gracie als lachende Bedienung. Gracie beim Flirt mit ihrem neuen Freund Aaron. Eine tanzende Gracie. Gracie, die im Regen stand, den Kopf in den Nacken gelegt hatte und lachte, lachte, lachte.
Ich zog mich zurück. Jetzt lächelte auch ich. Sie war in Sicherheit. Ich hatte gewusst, dass die Zukunft nicht unveränderbar war - immerhin hatte Deacon eine Vision gehabt, wie ich die Neunte Pforte verschloss. Und wie diese Vision ausging, das ist ja bekannt. Aber jetzt wusste ich mit Gewissheit, dass sich zumindest für Gracie die Lage zum Besseren gewandelt hatte.
»Wow!«, lächelte sie. »Das war überhaupt nicht gruselig.«
»Nein«, stimmte ich fröhlich zu. »Überhaupt nicht gruselig.« Ich neigte den Kopf und sah sie an. »Du, kann ich es noch mal versuchen?«
Sie kniff die Augen zusammen. »Warum?«
»Ich will herausfinden, ob ich es schaffe, ohne dass du was merkst.«
»So? Weshalb?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Könnte ganz praktisch sein.« Ich erklärte ihr nicht, dass sich im Fall eines Erfolgs für mich eine ganze Welt neuer Möglichkeiten auftun würde. Bei Kiera beispielsweise. Und bei Zane.
Und sogar bei Deacon.
Ich lehnte mich zurück und dachte nach. Wenn er mir auf die Schliche käme, würde ich dafür bezahlen, und zwar nicht zu knapp. Aber die Vorstellung, in seinen Kopf zu gelangen und seine Geheimnisse aufzudecken, die er mit aller Macht für sich behalten wollte, diese Vorstellung führte mich in sehr große Versuchung.
»Was ist? Bist du dabei?«
»Äh, na meinetwegen.«
Ich ließ ihr keine Zeit, ihre Meinung zu ändern, sondern versuchte es wieder. Und wieder. Beim dritten Mal sagte sie, sie könne mich zwar noch wahrnehmen, das Bild jedoch sei verschwommen. Meine Abschirmungstaktik schien tatsächlich zu funktionieren.
Zufrieden lehnte ich mich zurück. »Wir können später noch mal üben, oder?«
»Klar.«
»Danke! Und wenn du wirklich wieder bei uns als Bedienung anfangen willst, bist du herzlich willkommen.«
»Ja!« Sie beugte sich vor und umarmte mich stürmisch. »Wenn wir den Laden heute Nacht dichtmachen, hauen wir noch ein bisschen auf den Putz. Du, ich, Brian und Aaron. Keine wilde Sache. Nur ein Drink unter Freunden im Thirsty. Einverstanden? Du musst öfter unter die Leute. Ich kenne dich, Alice! Du kannst nicht immer nur zu Hause sitzen und vor dich hin grübeln oder dich irgendwo verstecken.«
»Ich habe mich nicht versteckt.«
»Oder einfach das Thema wechseln.«
»Ich bin von der Idee eben nicht übermäßig begeistert.«
»Wieso nicht?«
»Als wir das letzte Mal im Thirsty waren, hat man mich in der Gasse nebenan überfallen. Ich war klinisch tot.« Jemand hatte den Notarzt geholt, den ich allerdings nicht brauchte. Schließlich bin ich
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