Blood Magic - Weiß wie Mondlicht, rot wie Blut - Gratton, T: Blood Magic - Weiß wie Mondlicht, rot wie Blut - Blood Magic # 1
die auf mich zu stolperte. An allen Grabsteinen, an denen sie sich abstützte, hinterließ sie blutige Abdrücke ihrer Hand.
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Silla
Sieben Stunden, nachdem mein Bruder für tot erklärt worden war, hörte ich Flügel an mein Fenster schlagen.
Nach einem stundenlangen Verhör durch Sheriff Todd, elendem Erbrechen im Badezimmer, während Gram mir den Rücken rieb, und endlosem Geheule, als hätte jemand meinen inneren Wasserhahn aufgedreht, hatte ich auf dem Bett gelegen und an die Decke gestarrt. Ich war so müde, dass mein Blut sich in den Adern wie Blei anfühlte, aber ich konnte nicht schlafen. Ich konnte nichts anderes als daliegen, während mir die Tränen über die Schläfen in die Haare rannen. In meinem Magen schwamm die Übelkeit wie ein Goldfisch.
Ich wollte ihn wiederhaben, mehr als alles, was ich je im Leben gewollt hatte. Ich stellte mir vor, wie ich seinen Körper wiederbelebte und das Leben wieder hineinzwang. Zu sehen, wie er die Augen öffnete und die Lippen zu einem Lächeln verzog … Doch er war tot. Genau wie Mom und Dad war er gestorben und hatte mich verlassen, um an einen anderen Ort zu gehen. Hoffentlich war es dort wenigstens besser. Wenn jemand es verdiente, in den Himmel zu kommen, dann mein Bruder.
Und wie das Blut meiner Eltern, so war auch sein Blut über meine Hände geflossen und hatte meine Jeans getränkt. Ich kniff die Augen zu. Mein Kopf dröhnte und meine Nasenhöhlen brannten beim Atmen wie Feuer.
Das Flügelschlagen ließ mein Herz vor Schreck schneller
schlagen. Ich sprang aus dem Bett und rannte zum Fenster. Nichts.
Es war sechs Uhr morgens und am östlichen Horizont – hinter Nicks Haus und jenseits des Friedhofs – glänzte es bereits in hellem Silber. Der Ahornbaum im Vorgarten war still und leer. Die Fensterscheibe beschlug von meinem Atem und ich wischte sie klar, um in den grauen Morgen zu schauen. Hatte ich mir das Geräusch flatternder Federn nur eingebildet? War es nur ein Windstoß gewesen?
Wo war sie? Diese grässliche Hexe! Heiß flossen wieder die Tränen, als ich an sie dachte.
Ein Ahornzweig wackelte, als eine Krähe zum Flug abhob. Kreischend flog sie auf mich zu. Ich knallte die Hand flach an die Scheibe. Die Krähe drehte ab und ließ sich wieder auf dem Ahornbaum nieder. Und dann sah ich sie. Ein Dutzend schwarzer Krähen hatte sich hinter den Blättern versteckt. Sie beobachteten mich.
Ich drehte mich um, rannte nach unten und raste aus der Haustür. Die harten Kiesel bohrten sich in meine nackten Füße, aber ich stürzte zu dem Ahornbaum, wedelte mit den Armen und schrie: »Haut ab! Lasst mich in Ruhe!« Ich rammte den Baum mit der Schulter. »Weg da!«
Die glatte Rinde tat mir weh, als ich auf sie einschlug. Ich packte den Stamm mit beiden Händen und schüttelte ihn verzweifelt. Die oberen Zweige zitterten, Blätter fielen und die Krähen krächzten und keckerten.
Schließlich trat ich erschöpft zurück und breitete die Arme aus. Die Vögel schlugen mit den schwarzen Flügeln. »Hier bin ich«, sagte ich. »Macht mit mir, was ihr wollt.« Sollten sie mich doch auch töten.
Doch der Lärm verebbte. Um meine nackten Füße schwebten die Blätter herab und erinnerten mich an Reese, der einmal
ein welkes Blatt in die Luft geworfen hatte. Dann hatte er gelacht, weil es sich zu einem frischen grünen Ding verwandelte, bevor es auf dem Boden des Friedhofs aufkam.
Ich war allein.
Die Welt verschwamm vor meinen Augen und ich konnte durch die Tränen nicht sehen, wo die Vögel geblieben waren.
Dann ging ich zur Veranda und zog meine Turnschuhe an. Die Tränen in meinen Augen waren wie Schelllack, wie ein harter kristallisierter Film auf meinen Augäpfeln, den ich nicht wegwischen konnte. Es störte mich und ich rieb und rieb. Aber in mir war etwas zerbrochen.
Reese war ein Läufer gewesen und auch ich wollte laufen, sonst nichts. Weglaufen. Ich rannte die Straße entlang. Erst joggte ich langsam, um mich aufzuwärmen, aber dann streckte ich die Beine mehr und mehr, bis ich in vollem Sprint war. Unter mir glitt der Kies nur so dahin. Ich keuchte, doch selbst als mir die Brust wehtat, lief ich weiter. Aufzuhören kam nicht infrage. Mein Atem kam in weißen Wölkchen. Ein und aus, ein und aus, hart und weich und wieder hart. Meine Füße stampften und stauchten meine Knie und Hüften, bis die Muskeln endlich locker wurden.
In der Dunkelheit konnte ich nicht viel sehen, aber die Übelkeit ließ nach und der Wind trocknete meine Augen.
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