Blood Sun
Musik aus den Kopfhörern seines MP3-Players dröhnte. Beides interessierte ihn nicht wirklich. Zwischen den Buchseiten steckten die letzten Fotos, die er von seiner Mum erhalten hatt e – ein halbes Dutzend Bilder, die in verschiedenen Gebieten des Regenwaldes aufgenommen worden waren.
Max überlegte, was als Nächstes zu tun war. Abgesehen davon, dass er herausfinden wollte, was Danny Maguire mit seiner Mum zu tun gehabt hatte, musste er seinen Vater endlich zur Rede stellen. Warum machte er seinem Dad immer noch so schreckliche Vorwürfe? Vielleicht, weil er wusste, dass Tom Gordon auch eine dunkle, unergründliche Seite hatte. Einerseits war sein Vater ein starker, freundlicher Mann, der sich leidenschaftlich für den Umweltschutz engagierte und dafür sorgte, dass die Leute, die gegen die Naturschutzgesetze verstießen, vor Gericht landeten. Andererseits war er vor Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn zum Soldaten ausgebildet worden und Max hatte auf ihren gemeinsamen Urlaubsreisen in abgelegenen Regionen manchmal richtig Angst vor ihm bekommen. Als sie auf dem Indischen Ozean gesegelt waren, hatte Tom Gordon seine Pistole auf Piraten gerichtet, die Motoren ihrer Boote zerschossen und sie im haiverseuchten Wasser treiben lassen. In Griechenland hatte er so lange auf streitsüchtige Betrunkene eingeredet, bis sie sich getrollt hatten. Er schien seine eigene Angst völlig verdrängen zu können, in solchen Situationen war er kaum noch wiederzuerkennen. Wie war sein Vater wirklich?
Es begann zu schneien. Das Buch und die Musik waren vergessen.
Aus dem fast schon märchenhaften Schneegestöber schälte sich das kleine rote Postauto.
»Und?«, fragte Drew und schob sich einen Kaugummi in den Mund.
Stanton drückte sich den Kopfhörer noch fester auf die Ohren. »Irgendwas raschelt im Hintergrund. Jackson schimpft über Reklamesendungen, fragt: Ist das alles? Nichts für Max Gordon? Der andere Lehrer ist bei ihm und sagt: Nein, das war’s. Jetzt sagt Jackson ihm, er soll alles in den Postraum bringen und dafür sorgen, dass die Jungen ihre Briefe bekommen.«
Drew sah Stanton an und zuckte mit den Schultern. »Und? Wenn Danny Maguire es nicht mehr geschafft hat, es abzuschicken, ist doch alles in Butter. Lass uns nach London zurückfahren! So viel frische Luft ist ja kaum zum Aushalten.«
Stanton war nicht so ungeduldig. Vielleicht sollten sie diesen Tag noch abwarten. Aber was konnte das bringen? Hätte der junge Mann vor seinem Tod tatsächlich etwas abgeschickt, wäre es längst ausgeliefert worden, doch nichts von dem, was Jackson gesagt hatte, ließ darauf schließen. Drew hatte Recht. Sie hatten den Auftrag erledigt und sollten von hier verschwinden.
Trotzdem, irgendetwas stimmte nicht. Aber was? Während Stanton den Wagen vorsichtig auf die schmale Straße lenkte, war er in Gedanken bei Max Gordon. Er hatte den Jungen noch nie gesehen, dennoch ging er ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er schwang das Steuer herum, der Range Rover begann bergab zu rollen und fuhr langsam die Straße hinunter. Schneematsch rutschte über die Windschutzscheibe.
»Vorsicht!«, schrie Drew.
Sayid musste blinzeln, weil der Schnee an seinen Wimpern hängen blieb. Er hatte seine Wollmütze über die Ohren gezogen und sich den Schal vor den Mund gebunden. Er trat kräftig in die Pedale, als es bergauf ging, und erreichte die Anhöhe mit einem enormen Tempo. Als er nun noch schneller bergab raste, peitschte ihm der Wind den Schnee mit voller Wucht entgegen, sodass er sein Gesicht abwenden musste. Daher sah er das schwarze Auto nicht, das auf die Straße einbog.
Als der riesige Geländewagen plötzlich vor ihm auftauchte, riss Sayid den Lenker so stark herum, dass das Vorderrad wegrutschte. Er flog aus dem Sattel, landete im Schnee, schlitterte ein paar Meter über den Boden und krachte so heftig in die Böschung, dass ihm die Luft wegblieb. Ein stechender Schmerz durchzuckte seine Brust. Bevor er das Bewusstsein verlor, sah er nur noch den Kühlergrill des Rovers, der ihm wie der Rachen eines Ungeheuers vorkam.
Drew war schon aus dem Wagen gesprungen. Er bückte sich, drehte Sayid vorsichtig auf den Rücken und tastete ihn hastig nach Knochenbrüchen ab.
Stanton blickte die Straße hinauf und hinunter. Es war höchst unwahrscheinlich, dass jemand durch diese abgelegene Moorlandschaft fuhr, aber er blieb lieber wachsam. Der Schnee würde die Geräusche eines sich nähernden Fahrzeugs so sehr dämpfen, dass sie es womöglich
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