Blood Sun
in Ihrem Regal stehen? Ein bisschen was weiß ich natürlich auch über seine Bücher. Jeder Schüler muss sich da durchkämpfen. Wachen Sie auf! Kein Mensch spricht so. Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhunder t – oder haben Sie das noch nicht gemerkt?«
Einige Frauen im Hintergrund unterbrachen ihre Arbeit und drehten sich um. Max sah, dass sie lächelten. Offenbar hatte bisher noch niemand Orsino Flint, den Pflanzendieb und Möchtegern-Piraten, auf diese Weise herausgefordert.
Flint wandte sich wortlos ab. Max knirschte frustriert mit den Zähnen, dann ging er ihm nach.
»Hören Sie, ich möchte nur die Wahrheit über den Tod meiner Mum herausfinden. Warum haben Sie meine Mutter gehasst? Was hat sie Ihnen getan?«
Flint blieb am oberen Ende des Pfads stehen, der zum Fluss hinabführte. Er sah eine Weile auf das Wasser, bevor er antwortete: »Mein Vater war Tyrone Hickey Flint. Ein Ausgestoßener aus Irland. Der größte Shakespeare-Darsteller aller Zeiten. Fast fünfzig Jahre lang ist er von einer termitenzerfressenen Bühne zur nächsten gezoge n – von Patagonien bis Mexiko. Kein einziges Mal wurde sein Name gefeiert. Er sehnte sich nach Ruhm und Anerkennung und endete als ein armer Schuft, der von einem Dschungeldorf zum nächsten reiste und für Kost und Logis andere Menschen an seiner Liebe zu Shakespeare teilhaben ließ. Meine Mutter, eine Kreolin, begleitete ihn. Sie hat sich nie beklagt, sondern alles für ihn getan, ihm stets das Gefühl vermittelt, ein großer Star zu sein. Der Sohn meines Vaters wollte ich nie sei n – der meiner Mutter aber sehr wohl. Er prügelte die Texte in mich hinein und sie brachte mir liebevoll die Namen aller Blumen und Pflanzen im Dschungel bei. Ich bin der größte Pflanzendieb aller Zeiten. Deine Mutter hat das herausgefunden und mein Leben zerstört. Jetzt muss ich mit sehr viel weniger Geld auskommen als früher. Mein Ruf ist so ruiniert, dass kaum noch jemand Geschäfte mit mir machen will. Dafür haben deine Mutter und ihre Freunde gesorgt.«
»Dann wissen Sie also, wie sie gestorben ist?«
»Nein. Aber ich weiß, wo.«
18
S ayid verfolgte auf dem Bildschirm, wie ein Mann um das graue Gebäude schlich. Schwere Stahltüren versperrten den Eingang, doch dann gelangte er zu der Rampe, wo der Van mit Dannys Leiche gehalten hatte. Dort war ein Kontrollkasten angebracht. Der Mann vergewisserte sich, dass niemand in der Nähe war, zog eine Karte durch den Kasten und schlüpfte schnell durch den Spalt unter der Rolltür, die automatisch nach oben gezogen wurde. Wenig später sah Sayid, wie die Tür wieder in ihre Ausgangsposition zurückglitt.
Sofort wählte Sayid eine andere Überwachungskamera. Aus dem Verhalten des Mannes, der erst das Haus von außen inspiziert und dann einen Weg hinein gesucht hatte, schloss Sayid, dass es jemand vom MI5 war. Sie reagierten also auf die Datei mit den Überwachungsbildern, die er ihnen geschickt hatte.
Sayid stellte die Kamera im ersten Teil des Innenraums schärfer. Was er für Fenster gehalten hatte, waren in Wirklichkeit dunkle Glasscheiben. Natürliches Licht fand keinen Weg in das an ein Grabmal erinnernde Gebäude. Sayid sah zu, wie der Mann eine Taschenlampe anknipste und die Wände nach einem Lichtschalter absuchte. Woher wusste er, dass seine Lampe keinen auf Licht reagierenden Alarm auslöste? Vielleicht war er noch unerfahren. Sayid wurde immer nervöser, während er dem Mann mit seiner Kamera durch den Korridor folgte.
Die Wände in dem Gebäude bestanden anscheinend alle aus gebürstetem Stahl oder dickem, undurchsichtigem Glas. Keegan schlich vorsichtig weiter und tastete dabei mit den Händen über die Wände. Er suchte eine Tür oder irgendeine Öffnung.
In dem Korridor war es kühl und es herrschte eine unheimliche Stille. Keegan wurde unweigerlich an eine Leichenhalle erinnert. Er bildete sich das nicht ei n – sogar die Wände fühlten sich kalt an. Am Ende des Ganges befand sich ein Fahrstuhl. Er drückte den Knopf. Sogleich öffneten sich die Türen. Keegan stieg ein und konnte nun zwischen zwei Etagen wählen. Nach oben oder nach unten? Er entschied sich für den ersten Stock. Sein Atem ging jetzt schneller, doch trotz seiner Angst gefiel ihm der Nervenkitzel. Die Türen schlossen sich hinter ihm.
Noch ahnte er nicht, dass er das Tageslicht nie wieder sehen würde.
Sayid war genauso angespannt wie Keegan. Er verfolgte auf seinem Bildschirm ein Dutzend Kameras, aber sie waren alle auf leere Korridore
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