Bloody Mary.
auf das bleitafelgedeckte Flachdach geklettert, offenbar, um es auszumessen. »Sie sind wohl auf der Suche nach Kamerapositionen. Techniker. Wer sie genau sind, ist auf diese Entfernung schwer zu sagen.« Der Schatzmeister glotzte ihn verblüfft an. Auf welche Entfernung auch immer, er konnte diese Abziehbilder von Hartang unmöglich auseinanderhalten. Das war Teil des Grauens. »Ich glaube wirklich nicht, daß sie sich im Augenblick dort aufhalten sollten«, sagte er. »In der Kapelle wird gerade ›Brich uns, Herr, das Brot‹ gesungen.« Auch mit dieser Bemerkung hatte er kein Glück.
»Was gesungen? Her mit dem Brot? Jetzt gerade? Das muß ich sehen.«
»Nein, nicht, bitte nicht. Bitte«, flüsterte der Schatzmeister. Doch Kudzuvine schritt bereits durch den Säulengang in der Hoffnung – daran zweifelte der Schatzmeister kaum – »irgend so ’n paar kostümierte Mönche« zu sehen. Er folgte ihm in gedrückter Stimmung, und sein verwirrtes Hirn spiegelte ihm Visionen schrecklicher Flaschengeister vor. Oder war es die Büchse der Pandora? Irgendwas in der Art. In des Schatzmeisters Apokalypse war Kudzuvine nicht nur einer der vier Reiter, sondern die ganze verfluchte Bande. In der Kapelle machten sich die Ausmaße der Aktivitäten des Transworld-Television-Teams langsam bemerkbar. Nur dem fast tauben Kaplan entging, daß etwa äußerst Merkwürdiges im Gange war. Dem Praelector war es sehr wohl bewußt. Und der Chor, der gerade beinahe erhebend »Wo Gott der Herr nicht bei uns hält, wenn unsre Feinde toben« schmetterte, starrte geschlossen zur Decke. Sie war schon immer der schwächste Teil der Kapelle gewesen, und fehlende Mittel hatten verhindert, daß die Balken ersetzt wurden. Unter dem Gewicht von Kudzuvines Kameratechnikern – es waren noch einige nach oben geklettert, um sich einen guten Überblick zu verschaffen – schienen die Dachsparren nachzugeben und leicht zu wippen. Und obwohl die Mokassins keinen großen Lärm veranstalteten, war in der Stille nach dem Kirchenlied ein Geräusch zu hören, als wäre ein Schwarm extrem großer Vögel – der Praelector dachte an Strauße, nur waren die bekanntlich flugunfähig – auf dem Dach gelandet, die nun auf der Suche nach Atzung umherstolzierten.
»Lasset uns beten«, sagte der Kaplan, »für all jene kranken und unglücklichen Menschen, die in diesem Augenblick ...« Er verstummte. Ein großes Stück Gipsstuck war abgebrochen und in die Sitzreihen hinabgestürzt. Nun wollte der Praelector nicht länger warten.
»Ich glaube«, schrie er, während sich über ihm ein lautstarkes Ächzen im Gebälk vernehmen ließ, »ich glaube, wir sollten jetzt alle das Gebäude verlassen.«
Noch ein großes Stück prächtigen Gipsstucks, diesmal von einem riesigen Cherubim, löste sich und sauste herab, nahm dabei eine marmorne Gedenktafel für Dr. Cox (1702 – 40) mit sich und erschlug fast einen Studenten auf der darunterstehenden Bank. Sogar der Kaplan hatte inzwischen gemerkt, daß etwas Erdbebenähnliches im Gange war. Als der Chor und die kleine Gemeinde zur Tür stürzte – »Nur keine Panik. Immer hübsch langsam«, rief jemand –, blieben sie abrupt stehen, weil Kudzuvine plötzlich auftauchte. Er stand in der Tür, eine bedrohliche Gestalt in Sonnenbrille und Rollkragenpulli, und hielt eine Hand hoch. »Stehenbleiben«, brüllte er. »Stehenbleiben!« Der Praelector sah sich kurz nach etwas Handfestem um. Er hatte so viele Stunden im Rex und im Kinema an der Mill Road verbracht, daß er einen Gangster auf den ersten Blick erkannte, und Kudzuvine war allem Anschein nach ein Mafioso. Doch die Stockung hielt nicht lange vor. Der nächste Brocken, diesmal festes, von dem Ende eines Dachbalkens gelöstes Mauerwerk, krachte nach unten und landete auf dem Lesepult. Jetzt gab es kein Halten mehr. Die Gemeinde schob sich nach vorn, ohne Kudzuvine im geringsten zu beachten, der zu Boden geschleudert und von einigen massigen Rugbyspielern und einer jungen Frau mit einer Vorliebe für Hockey niedergetrampelt wurde. Als sie die Gefahrenzone schließlich verlassen hatten, zeigte nur der Kaplan keinerlei Anzeichen von Unruhe. »Wir alle müssen um Vergebung bitten«, sagte er zu dem bewegungslos daliegenden Kudzuvine, der starkes Nasenbluten hatte und nicht wußte, was ihn da überrannt hatte. Es fühlte sich an wie eine Herde Stiere in einem Film, an dessen Produktion in Texas er einmal beteiligt gewesen war. Jedenfalls war er mit dem Kopf auf die Steinplatten
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