Bloß keine halben Sachen: Deutschland - ein Rollstuhlmärchen (German Edition)
viele Alternativen geschaffen, dass man die morgendlichen Runden im Eishockey-Stadion nicht mal mehr vermisst. Ich denke gern an die Zeit zurück und weiß auch noch ganz genau, wenn ich die Augen schließe, wie es sich anfühlt, über das Eis zu gleiten. Wie sich Gras unter den Füßen anfühlt – oder Sand, wenn man die Zehen reinschiebt. Das alles weiß ich noch, aber es würde mir nichts bringen, wenn ich es vermissen würde, weil ich diesen Zustand nie wieder herstellen kann. So bleiben es schöne Erinnerungen, die ich aber zum Beispiel mit Emely teilen kann.
Auch das gehört zum Verarbeiten dazu. Man darf nicht dem alten Zustand nachtrauern, sondern muss sich ganz auf den
neuen einlassen. Wenn man das nicht will und nicht tut, wird einen die Trauer darüber immer wieder einholen. Man muss das Thema abschließen. Es abschließen, um das Neue zu beginnen. Um das zu schaffen, ist oft viel Geduld nötig, aber man kann es schaffen.
Auch um dies zu vermitteln, werde ich in Schulen eingeladen. Ich kann viel mehr erzählen als nur die Tatsache, wie man mit dem Handbike Runden dreht. Ich erzähle meine Geschichte, mein Leben. Wie es ist, ohne Beine aufzuwachen, und wie man trotz dieses Schicksalsschlages nicht die Hoffnung verliert. In dem Moment, in dem ich den Sport in mein behindertes Leben ließ, wuchs nicht nur mein Selbstbewusstsein! Auch mein Körper modellierte sich Stück für Stück auf eine Weise, dass ich mich wieder ansehen mochte. Ich bekam muskulöse Arme und fühlte mich unheimlich stark und unzerbrechlich! Wenn du dich so fühlst, dann ist es nicht wichtig, ob du Beine hast oder nicht. Der Sport half mir zu zeigen, dass ich alles machen kann. Du kannst mit mir in Urlaub fahren, du kannst mit mir Skifahren gehen oder Wasserski, mit mir Schwimmen gehen und mit mir Tennis spielen, wenn du magst.
All dies erkläre ich den Schülern. Denn jedes Leben hat seine individuellen Behinderungen und Schwellen, ob das nun schulisches Versagen, Arbeitslosigkeit, das Studium, das du dir hart erarbeiten musst, die Frau, die du nicht eroberst, fehlende Füße oder Hühneraugen sind. Jeder Mensch hat Einschränkungen und Verletzungen. Sich zu akzeptieren, herauszufordern und selbst im Kampf zu erfahren, bringt einen weiter. Der innere Schweinehund bist du selbst – worauf es ankommt, ist, ihn zu überwinden.
KAPITEL 5
Arbeit
Nachdem ich die Krankenhauszeit beendet hatte, war es mir wichtig, etwas zu tun, gebraucht zu werden. Ich wollte etwas lernen, in jedem Fall einer Arbeit nachgehen.
Für mich bedeutete dies, dass ich erst mal eine Ausbildung machen musste. Das war allerdings schon am Start mit Schwierigkeiten behaftet ... Wenn Menschen eine Beeinträchtigung haben, gibt es viele Möglichkeiten für sie, um beim Einstieg ins Berufsleben Unterstützung zu erfahren. In meinem Fall war das Berufsförderungswerk in Wieblingen bei Heidelberg eine Anlaufstelle. Ich habe mich dort um eine Umschulungsmaßnahme beworben. Weil ich noch keinen Erstberuf hatte, das jedoch eigentlich Grundvoraussetzung für eine Umschulung ist, musste da ein wenig gedreht und gewendet werden, aber letztendlich klappte es, und ich wurde in die Umschulungsklasse zum Bauzeichner aufgenommen – für mich damals ein erster kleiner Erfolg.
Naiv wie ich war, ging ich davon aus, dass es sich beim Bauzeichnen um einen kreativen Beruf handelt, was so aber leider nicht stimmte. Vielleicht wäre es damals gut gewesen, einen Berater zur Seite zu haben. Wir hatten das Thema ja schon mal: Jemand, der versteht, dass du gerade mit Themen überflutet bist und deswegen ein paar Takte mehr Beratung und ein »an die Hand nehmen« brauchst. Damit würde die Gefahr, dass man sich in eine Sache verrennt, wesentlich kleiner.
Aber zurück in meine Umschulklasse: Da saßen die klassischen Fälle – Leute mit Bandscheibenvorfällen oder Allergiker,
zum Beispiel aus der Baubranche. Ich erinnere mich an eine Menge deprimierter und wahrscheinlich auch unmotivierter Leute. Einige meiner Mitschüler waren von ihren Lebensumständen regelrecht zur Teilnahme »gezwungen« worden; sie konnten sich die Arbeitslosigkeit nicht mehr »leisten«. Nicht alle wollten das wirklich, denn der Traumjob spielte sich im vorherigen Leben ab. Aber man hat nicht viele Möglichkeiten, wenn ein Haus abbezahlt werden muss oder Kinder da sind.
Ich erinnere mich vor allem an Bernd, der eine Reihe vor mir saß. Er arbeitete seit vielen Jahren als Straßenbauer. Sein Problem war zum
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