Bloß keine halben Sachen: Deutschland - ein Rollstuhlmärchen (German Edition)
Journalen sind Schönheit, Mode und Stil vertreten. Die Werbung ist ästhetisch und auf Makellosigkeit poliert. Pickel, Narben, Unebenheiten kommen nicht vor, und sind sie doch mal da, werden sie retuschiert. Würde ich als Model auftreten, dann hieße das im Umkehrschluss, man müsste mir Beine an den Rollstuhl malen, denn ohne Beine bin ich eben nur ein halber Mann – und so was will die Werbewelt nicht sehen, heißt es. Man suggeriert uns die Existenz einer perfekten Welt, ohne Makel oder Abweichungen von der Norm, aber ich weiche ab – und halte mich trotzdem für attraktiv und modisch. Mich wohl zu fühlen, auch in meiner Kleidung, unterstützt mich bei meiner Arbeit und meinen öffentlichen Auftritten. Mode ist für mich eine Form von Selbstmotivation.
Ich liebe es, mich beim Kauf beraten zu lassen. Außerdem habe ich durch meinen täglichen Sport Oberarme entwickelt, die kaum in eine Normgröße passen. Ich bin kein Standard! Von daher hatte ich nie Berührungsängste, wenn es darum ging, das Beste für mich auszusuchen. Das gilt für maßgefertigte Autos genauso wie für perfekt sitzende, maßgeschneiderte Jacken und Sakkos.
Mein erster großer Besuch bei einem Maßschneider war im Jahr 2005, ein halbes Jahr vor meiner Hochzeit. Damit war der erste Besuch gleich auch der aufregendste, denn die Zeit
vor einer Trauung kann – ob mit Beinen oder ohne – ganz schön kräftezehrend sein. Ich war vorher noch nie beim Maßschneider, weil ich vorher keine Sakkos oder ähnliches »Geschirr« besaß. Aber für diesen besonderen Anlass wollte ich mir etwas besonders Schönes schneidern lassen. Von der Stange hätte ich sowieso nichts bekommen, weil ich ja, wie gesagt, alles andere als ein schmächtiger Typ bin. Bestimmt wäre ich auch ohne Hochzeit irgendwann bei maßgeschneiderter Kleidung gelandet.
Beim Herrenschneider meiner Wahl herrschte eine angenehm dezente Atmosphäre. Später, als ich den Vergleich zu anderen Schneidern hatte, wurde mir klar, dass meine erste Erfahrung die beste war. Der Schneider hatte aus meiner Sicht Stil; er hätte mir zum Beispiel niemals rosafarbenes Innenfutter angeboten, wie es andere Schneider nach ihm taten. Auf die Idee muss man erst mal kommen: außen ein echter Kerl, und wenn er die Jacke aufknöpft, Ferkellook!
Mein erster Schneider passte mir den Hochzeitsanzug fantastisch an und gab mir keine Sekunde lang das Gefühl, an meinem Körper fehle etwas. Dass er sich meiner Maße und meines Körpers annahm, hat mich letztendlich als Person stärker gemacht. Der Schneider hat nicht nur mich als Kunden, sondern mein ganzes Wesen ernst genommen – und da gehören die fehlenden Beine nun mal dazu. Es fühlte sich an wie die vollendete Dienstleistung.
Ich finde, das ist die Kunst, dafür zu sorgen, dass der Kunde sich schön und vollkommen fühlt, auch wenn es der Körper vielleicht nicht ist. Zu begreifen, dass gerade der nicht perfekte Körper ein Kunstwerk ist. Deswegen macht die Schönheitschirurgie aus meiner Sicht so hässlich: Wer will schon eine leibhaftige Barbiepuppe oder einen Ken neben sich sitzen haben
– oder mich, mit perfekt ausgestopften Beinen? Ich hatte nie Hemmungen, mich gegen den praktischen Look und Einkauf von Behindertenklamotten zu stellen. Auch in der Mode nehme ich am Leben teil und lasse mich nicht verdrängen.
Viele Menschen mit Behinderung gehen aber nicht zum Maßschneider, sondern kaufen dann doch in speziellen Läden für Behindertenmode ein. Denn das Shoppen, wie es Füßler zelebrieren, ist für Rollstuhlfahrer nicht immer leicht: Die Läden haben Stufen, Rolltreppen führen hinauf und hinunter, die Kleidung hängt vielleicht so, dass ich sie mir nicht selbstständig holen kann, ich komme mit dem Rolli nicht zwischen den Ständern hindurch, ziehe Blicke auf mich und passe oft nicht in die Kabinen hinein. An ein Aus-dem-Rollstuhl-Hieven, damit ich die Waren gut probieren kann, gar nicht zu denken. So sieht die Shoppingrealität aus.
Das ist ein Grund, weshalb sich viele Menschen mit Beeinträchtigung ihre Kleidung lieber im Internet bestellen, sich zuschicken lassen und in Ruhe und bequem zu Hause anprobieren. Was nicht passt, geht dann einfach wieder retour.
Internetshops für behinderte Menschen tragen oft schon entsprechende Namen, wie »Inpetto – pfiffige Mode für besondere Kinder«, wo zum Beispiel die Designerin Barbara Schmitz ihre fröhliche und farbenfrohe Mode für Rollstuhlfahrer und Fußgänger verkauft. »Immer
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