Bloß keine halben Sachen: Deutschland - ein Rollstuhlmärchen (German Edition)
häufiger kamen Anfragen von Eltern behinderter Kinder, die mit ›normaler‹ Konfektionsware weder schick noch praktisch angezogen werden konnten«, heißt es auf der Internetseite www.inpetto-reha.de . »Da passten die Hosenbeine nicht über die Gehschienen, die Jacke nicht in die Sitzschale, das An- und Ausziehen und die alltägliche Versorgung waren für alle Beteiligten eine umständliche Prozedur.« Und so bleibt es, auch wenn die behinderten Kinder längst erwachsen sind.
Die meisten Menschen, ob sie nun behindert sind oder nicht, kaufen gern ein, so wie ich. Und ich will nicht nur im Internet aussuchen, weil der Kleidungskauf auch ein sinnlicher Prozess sein kann. Es macht Spaß, zusammen durch eine Fußgängerzone zu bummeln und an den Schaufenstern zu verweilen. Gerne werfe ich auch einen Blick hinein, denn ich bin schon ein eitler Typ und mag den Kerl, den ich im Fenster sehe.
Deswegen ziehe ich mich auch gern schick an. Kleidung ist mir wichtig, denn sie macht auch einen Teil meines Images mit aus. Ich bin ein smarter, souveräner (halber) Mann im Rollstuhl. Wenn Frauen mich beschreiben, dann würden sie vielleicht auch von einem charmanten Mann sprechen. Der Typ »Gammelrollstuhlfahrer« liegt mir fern. Ich achte darauf, dass ich einen sauberen Haarschnitt habe, dass ich aus meinem Bart keine Zöpfe flechten kann und dass ich gut rieche. Ich gehe gern zum Friseur. Die Kopfmassage meiner Friseurin ist für mich wie zwei Wochen Urlaub, unglaublich. Das entspannt mich total. Alles zusammen, Klamotten, Haarschnitt und natürlich auch eine vernünftige Ansprache, gehört für mich zu einem vernünftigen Erscheinungsbild dazu, und das gilt natürlich auch für Behinderte.
Aber auch wenn man als Behinderter auf sein Äußeres achtet, hat man kaum Chancen, in die »obere Liga« durchzustarten, sprich: als Model Karriere zu machen. Nur Wenige haben das bisher geschafft; auf dem Laufsteg scheinen Behinderte in den Augen der meisten Modezaren nichts zu suchen zu haben.
Eine der bekanntesten Ausnahmen ist wohl Mario Galla, der wegen einer Oberschenkelverkürzung eine Beinprothese trägt. Er selbst findet die übrigens »überbewertet«. Seine Agentur wusste zunächst nichts von seiner Behinderung, erzählt der
attraktive 27-Jährige: »Erst nachdem sie ein paar Polaroids von mir gemacht haben, habe ich ihnen meine Prothese gezeigt. War für sie aber kein Problem. Und ich hatte tatsächlich schon nach wenigen Monaten meinen ersten Job für Hugo Boss.« In einem Radiointerview sagt Mario Galla: »Wenn die Kunden zum ersten Mal sehen, dass da was anders ist – dann wird so geguckt, als wenn gerade ein Raumschiff durch den Raum fliegt oder an meinem Bein klebt. Diese Berührungsangst muss man den Leuten nehmen, indem man sagt, es ist alles okay, ich kann alles ganz normal damit machen, ich kann normal laufen, ich kann die Hose anziehen – am besten zeigen, dass man sich schnell umziehen kann, (...) schnell vermitteln, dass das kein Problem ist in der Situation.« 1
Mailand und Paris sind die Städte, in denen Galla am meisten Arbeit findet. In Deutschland wird der Hamburger weniger gebucht. Die Kunden hätten Angst, seien konservativ, sagt er.
In einer Welt, in der Frauen über 50 und Männer ohne Waschbrettbauch regelmäßig »ausrangiert« werden, haben Menschen mit Handicaps wenige Chancen auf eine gleichberechtigte öffentliche Wahrnehmung. Nur wenige Organisationen, Initiativen, Kampagnen wie Cap 48 oder die Internetplattform Rolling Planet setzen sich für die Integration von behinderten Menschen in allen Lebensbereichen ein – auch in der Welt der Mode. Unter dem Namen »Miss Angels« hat Rolling Planet einen Modelwettbewerb für Behinderte und Menschen, die sie pflegen, ins Leben gerufen: »Wir suchen Germany’s Next Disabled Model.« Im Rahmen des Wettbewerbs berichten Models mit Handicaps wie Tanja Kiewitz von alltäglichen Aus-grenzungen.
Noch immer, sagt sie, starrten zu viele Menschen auf ihr »Ärmchen«, wie sie ihren behinderten Arm nennt; abwertende, sogar angeekelte Blicke gehörten zu ihrem Alltag. »Es ist mir unangenehm, meinen Arm zu zeigen. In der Öffentlichkeit bedecke ich ihn normalerweise«, erklärt Kiewitz, die seit ihrer Geburt mit ihrer Behinderung lebt. 2
Wo ich öffentlich nicht stattfinden darf – na klar, diese Öffentlichkeit scheue ich. Deswegen endet für viele Menschen mit Behinderung der Gang zum Maßschneider wahrscheinlich vor einem eingebildeten
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