Blow Out (German Edition)
am Haupteingang der Botschaft hinter sich, aufmerksam beobachtet von einem ihr unbekannten Wachmann, der heute an Conrads Stelle im Wachhaus seinen Dienst versah. Das Namensschild an seiner Uniform wies den Mann als Kenny Porter aus. Obwohl es keinen Unterschied machte, wäre ihr irgendwie wohler gewesen, wenn Conrad ihr gegenübergesessen hätte.
Aus den Augenwinkeln beobachtete sie die Reaktion des drahtigen Porter, während sie vor den Scanner trat. Gut möglich, dass Franklin der Security zwischenzeitlich den Auftrag erteilt hatte, Emmas Ankunft sofort zu melden. Sollte sie im Gesicht des Wachmanns auch nur das geringste Anzeichen dafür erkennen, war sie darauf vorbereitet, sofort die Flucht zu ergreifen. Die gesamte Prozedur dauerte wie üblich nur wenige Sekunden. Ab jetzt konnte jeder, der sich dafür interessierte, ihre Anwesenheit über jedes beliebige Terminal der Botschaft abfragen. Auch Leland Franklin.
Mit schnellen Schritten erreichte sie den Treppenaufgang und blickte verstohlen hinter sich. Niemand schien von ihr Notiz zu nehmen.
Ohne Zwischenfälle erreichte sie ihr Büro, schloss die Tür, lehnte sich mit dem Rücken dagegen und atmete tief durch. Sofort fiel ihr Blick auf den Rollschrank, in dem die Akte vor neugierigen Blicken verborgen ruhte. Keine digitale Kopie, sondern das Original. Sie war der Grund für Emmas Rückkehr in die Botschaft gewesen. Emmas einzige Versicherung war diese Originalakte. Digitale Dokumente zu fälschen war ein Kinderspiel. Jeder durchschnittlich begabte Zehnjährige brachte das fertig. Die Akte aber war real. Zwar bestand sie nur aus Fotokopien, aber das Alter des Papiers zu bestimmen und somit dessen Echtheit festzustellen, war ein Leichtes.
Sie sprach die Zahlenkombination in das Schloss des Rollschranks und öffnete ihn.
Der Ordner befand sich an derselben Stelle wie am Abend zuvor, trotzdem stutzte sie. Der Rand des Ordners ragte zwei Zentimeter über die Kante des Regals hinaus. Emma hätte schwören können, dass sie ihn bündig zum Regalboden abgestellt hatte, wie sie dies immer tat. Was das anging, war sie pingelig. Sah sie jetzt schon Gespenster?
Während sie stirnrunzelnd auf den hervorstehenden Ordner starrte, meldete ihr Terminal den Eingang neuer Mails. Vielleicht hatte Nick sich gemeldet? Sie hockte sich vor den Monitor und überflog sämtliche seit gestern eingegangenen Mails. Keine davon stammte von Nick.
Kurz entschlossen zog sie das Prepaid-Handy aus der Handtasche, das sie am Abend zuvor in dem kleinen Elektrofachgeschäft am Hauptbahnhof erstanden hatte. Mehr denn je erschien ihr eine anonyme Kommunikation mit Nick unerlässlich, und da er sie schon nicht zurückrief, musste sie eben über ihren Schatten springen. Über kurz oder lang kriege ich dich , dachte sie, während sich die Verbindung aufbaute.
24
Das Auffanglager Kaltenkirchen befand sich streng genommen einige Kilometer nördlich von Kaltenkirchen, auf dem Gebiet des ehemaligen Naturparks Aukrug. Es umfasste eine Fläche von 300 Hektar und bestand im Großen und Ganzen aus aneinandergereihten Wellblechbaracken, die man einfach auf den gestampften Lehmboden der flachen Grundmoränenlandschaft gesetzt hatte. Sie waren in Zweierreihen angeordnet und boten zwischen den Baracken gerade genügend Platz für die Bundeswehrlaster. Ein Erdwall mit einem drei Meter hohen Stacheldrahtzaun darauf umgab das gesamte Gelände, unterbrochen nur von mehreren Ein- und Ausfahrten, die von Bundeswehrsoldaten kontrolliert wurden.
Nick stand rauchend vor der Baracke, in der man seine Mutter untergebracht hatte. Die Bruchbude mit den viel zu kleinen Fenstern war mit Lehm bespritzt, und die feuchte Meeresluft sorgte für einen bis unters Dach reichenden Algenbewuchs.
Die Sonne war erst vor wenigen Minuten aufgegangen, trotzdem spürte Nick ihre heißen Strahlen bereits im Nacken. Er fischte eine Tube Sunblocker aus der Hosentasche und schmierte sich großzügig Gesicht und Unterarme ein. Männer und Frauen aller Hautfarben und Rassen standen herum und hielten ein Schwätzchen, dazwischen wuselten Mitarbeiter des Technischen Hilfsdienstes und Soldaten umher. Kinder sprangen barfuß durch dreckige Pfützen, die der Starkregen letzte Nacht in den tiefen Fahrrinnen der Straßen hinterlassen hatte. Einmal mehr schwor sich Nick, seine Mutter so schnell wie möglich hier herauszuholen.
Eine Frau mit blondem Pferdeschwanz kam auf ihn zu. Sie trug eine Bundeswehruniform und um ihren linken Oberarm eine
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