Blow Out (German Edition)
Ungewissen. Emma musste diese Akte publik machen. Gerechtigkeit war nicht käuflich.
Sie öffnete die Tür zum Korridor. Vorsichtig spähte sie in beide Richtungen. Niemand war zu sehen. Sie lief den Flur entlang direkt auf die Treppen und die benachbarten Aufzüge zu. Bei jedem Schritt schlug ihr der Aktenkoffer gegen den Oberschenkel. Sie entschied sich für die Treppe und hastete die Stufen hinunter. Auf halbem Weg prallte sie fast mit Leslie Wong aus der Landwirtschaftsabteilung zusammen, der zwischen zwei Treppenabsätzen stand und in irgendein Schriftstück vertieft war. In allerletzter Sekunde vermied sie einen Frontalzusammenstoß. Nicht verhindern konnte sie, dass ihr Aktenkoffer gegen Wongs Hände schlug und seine Unterlagen durch die Luft segelten. Sie rief ihm ein knappes »Sorry« über die Schulter hinweg zu und stürmte ohne anzuhalten weiter. Noch im Erdgeschoss hörte sie Leslie Wong fluchen.
Unten angekommen, erwartete sie die weitläufige Lobby. Dreißig Meter vor ihr befand sich der Ausgang. Zwei uniformierte Wachmänner standen neben den Scannern und der Durchleuchtungseinheit. An ihnen führte kein Weg vorbei.
Sie marschierte los. Trotz der klimatisierten Umgebung bildete sich auf ihrer Haut ein klebriger Schweißfilm.
Sie näherte sich den Wachmännern, an deren Gürteln Holster mit beeindruckenden Tasern hingen, die eine große Ähnlichkeit mit kleinkalibrigen Pistolen aufwiesen. Feuerte man diese Betäubungswaffen ab, schossen zwei Projektile mit einer Geschwindigkeit von mehr als 50 Metern pro Sekunde auf das Opfer zu. Die mit Widerhaken besetzten Nadeln bohrten sich ins Fleisch und jagten einen elektrischen Impuls von bis zu 100 000 Volt durch den Körper des Getroffenen. Dessen sensorisches sowie motorisches Nervensystem wurde auf der Stelle außer Gefecht gesetzt, und der Angeschossene sank unter großen Schmerzen paralysiert zu Boden. Emma verspürte nicht die geringste Lust, diese äußerst schmerzhafte Erfahrung am eigenen Leib durchzumachen. Schon gar nicht hier in der Botschaft, vor den Augen ihrer Kollegen.
Sie erreichte die Durchleuchtungseinheit, legte Aktenkoffer und Handtasche auf das Transportband und unterzog sich der Bodyscanprozedur. Die beiden Wachmänner ließ sie dabei keine Sekunde aus den Augen. Einer von ihnen war ein hübscher Bursche namens Kyle Zappa. Zappa bemerkte ihren Blick und zwinkerte ihr lächelnd zu.
»Miss Fisher?«
Erschrocken fuhr sie herum.
Der zweite Wachmann, ein Hüne mit Koteletten, auf die Elvis neidisch gewesen wäre, stand neben ihr. Sein Gesichtsausdruck war wesentlich weniger freundlich als Kyle Zappas.
»Ja bitte?«
Der Hüne hielt Emma ihren Aktenkoffer unter die Nase. »Hier drin befindet sich ein nicht registrierter Aktenordner ohne RFID -Markierung.«
Emmas Herzschlag setzte einen Moment aus. »Der stammt aus dem alten Archiv.«
»Sämtliches Eigentum der Botschaft, das aus dem Gebäude entfernt wird, muss mit einem RFID -Chip versehen sein. Sie sollten die Vorschriften eigentlich kennen, Miss Fisher.«
»Natürlich kenne ich die Vorschriften.« Sie versuchte es mit einem unschuldigen Augenklimpern. »Dieser Ordner kommt direkt aus der Steinzeit. Der fehlende RFID ist mir in der Hektik wohl nicht aufgefallen. Sorry.«
»Dürfte ich bitte mal sehen?«, kam es humorlos zurück.
Sie tat so, als fahre sie sich durch ihre Haare. In Wirklichkeit wischte sie einen Schweißtropfen fort, der sich über ihrer rechten Schläfe gebildet hatte. »Sicher.«
Sie legte den Aktenkoffer auf den Metalltisch neben der Durchleuchtungseinheit und öffnete ihn. Der Hüne beugte sich darüber. Prüfend fuhr er mit seinen Pranken über den Ordnerrücken. Emmas Puls hämmerte.
Er klappte den Ordner auf.
»Stimmt etwas nicht?« Kyle Zappa tauchte neben ihr auf.
»Alles in Ordnung«, sagte der Hüne und klappte Ordner sowie Aktenkoffer zu.
Emma nahm ihn, murmelte ein knappes »Danke« und eilte dem Ausgang entgegen.
Unter dem Vordach der Botschaft kniff sie die Augen zusammen, verfluchte sich, weil sie ihre Sonnenbrille auf dem Schreibtisch liegen gelassen hatte, und lief auf das Wachhaus zu. Dahinter tummelte sich eine kaum überschaubare Menschenmenge auf dem Pariser Platz. Nie hatte ihr dieser alltägliche Anblick besser gefallen, verhieß er doch Sicherheit durch Anonymität.
Nur wenige Schritte trennten sie noch vom rettenden Ausgang.
Dann ertönte schrill der Alarm.
29
Kurze, abgehackte Signaltöne trafen auf Emmas Trommelfell wie
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