Blüte der Tage: Roman (German Edition)
bekam eine Gänsehaut auf den Armen. Und als sie die Augen öffnete,
tat sie es nicht aus Angst, sondern aus Mitleid. Sie starrte die Frau an, die neben der Wiege stand.
Heute war ihr Haar offen, hing in goldblonden wirren Locken über ihre Schultern. Sie trug ein weißes Nachtgewand mit einer Schlammspur am Saum. Und in ihren Augen stand ein wilder, fast wahnsinniger Ausdruck.
»Du hattest niemanden, der dir zur Seite gestanden ist, nicht wahr?«, flüsterte Hayley. Ihre Hände zitterten ein wenig, aber den Blick auf die Erscheinung geheftet, strich sie weiter über ihren Bauch, redete weiter.
»Vielleicht hattest du niemanden, der dir Trost spendete, als du so viel Angst hattest wie ich. Ich glaube, ohne jeden Beistand wäre ich auch verrückt geworden. Und ich weiß nicht, was ich machen würde, wenn meinem Baby etwas zustieße. Oder wie ich es ertragen könnte, wenn ich durch irgendwelche Umstände von meinem Baby getrennt werden würde. Selbst wenn ich tot wäre, könnte ich das nicht ertragen. Deshalb glaube ich, dass ich dich verstehe. Zumindest ein wenig.«
Ein hoher, klagender Laut ertönte, der in Hayley das Bild einer zerstörten Seele, eines zerstörten Geistes erweckte.
Dann war sie wieder allein.
Am Montag saß Hayley wieder auf dem hohen Stuhl hinter der Ladenkasse, aber erheblich besser gelaunt. Als sie Rückenschmerzen bekam, ignorierte sie diese. Und als sie um Ablösung bat, um wohl zum hundertsten Mal auf die Toilette zu gehen, kommentierte sie dies mit einem kleinen Scherz.
Ihre Blase benahm sich, als sei sie auf Erbsengröße geschrumpft.
Auf dem Rückweg machte sie einen Abstecher nach draußen, um sich die Beine zu vertreten und kurz mit Stella zu sprechen.
»Ist es okay, wenn ich meine Pause jetzt nehme? Ich würde gern zu Harper gehen und mich bei ihm entschuldigen.« Sie hatte sich schon den ganzen Vormittag vor diesem Moment gefürchtet, wollte ihn aber nicht länger hinausschieben. »Am Sonntag war er nirgendwo aufzutreiben, aber inzwischen wird er wohl wieder in seiner Höhle sein.«
»Klar, geh ruhig. Ach, ich bin gerade Roz begegnet. Sie hat diesen Professor angerufen, diesen Dr. Carnegie, und für diese Woche einen Termin mit ihm ausgemacht. Vielleicht kommen wir jetzt endlich weiter.«
Stirnrunzelnd hielt sie inne und sah Hayley scharf an. »Weißt du was? Morgen wird dich jemand zu deinem Arzttermin begleiten. Ich möchte nicht, dass du noch länger allein Auto fährst.«
»Noch passe ich hinter das Lenkrad.« »Mag sein, trotzdem werden entweder Roz oder ich dich fahren. Außerdem wirst du von jetzt an nur noch Teilzeit arbeiten.«
»Wenn du mir die Arbeit wegnimmst, kannst du mich gleich in die Klapsmühle stecken. Komm schon, Stella, viele Frauen arbeiten bis zum Schluss. Außerdem sitze ich sowieso die meiste Zeit nur faul herum. Wenn ich zu Harper gehe, komme ich wenigstens in den Genuss eines Spaziergangs.«
»Spazierengehen ist okay«, stimmte Stella zu. »Aber nicht zu lange. Und nicht rennen.«
»Ja, ja.« Lachend machte sich Hayley auf den Weg ins Gewächshaus.
Vor dem Gewächshaus blieb sie einen Moment stehen, um eine kleine Ansprache einzustudieren. Sie wollte nicht unvorbereitet bei Harper erscheinen. Er wäre sicher auch mit einer schlichten Entschuldigung zufrieden – schließlich war er gut erzogen und hatte allem Anschein nach ein gutes Herz. Aber sie wollte ihm unbedingt begreiflich machen, dass ihre üble Laune nichts mit ihm zu tun gehabt hatte.
Sie öffnete die Tür und atmete den erdigen Geruch ein. Sie liebte diese Atmosphäre, die von Forschergeist kündete, von kreativem Schaffen. Sie hoffte, dass Roz oder Harper sie eines Tages in diesen Bereich des Gartenbaus einweihen würde.
Harper befand sich, über seine Arbeit gebeugt, am anderen Ende des Gewächshauses. Er hatte seine Kopfhörer auf und klopfte mit einem Fuß im Takt irgendeiner Musik.
Gott, er war echt süß. Wäre sie ihm, bevor sich ihr Leben so verändert hatte, im Buchladen begegnet, wäre sie voll auf ihn abgefahren. Oder hätte dafür gesorgt, dass er auf sie abfährt. Dieses dunkle, verstrubbelte Haar, diese rasante Wangenpartie, dieser verträumte Blick. Und die schlanken Künstlerhände.
Wahrscheinlich liefen ihm die Mädchen scharenweise nach.
Sie ging auf ihn zu und zuckte erschrocken zusammen, als sein Kopf jählings hochschnellte und er sich zu ihr herumdrehte.
»Herrgott, Harper! Ich hatte eher Angst, ich würde dich erschrecken, nicht umgekehrt!«
»Wie?
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