Blütenrausch (German Edition)
m etwas abfälligen Ton. Ich fühlte mich in meiner Berufsehre verletzt, ließ es mir aber nicht anmerken. Stattdessen erwiderte ich mit sanfter Stimme: »Weil mir etwas an Natalie lag.«
Die Bemerkung hatte Tim tief getroffen. Er richtete seinen Blick zum Fenster hinüber. Draußen fing es an zu nieseln. Ein paar Tropfen perlten an der Fensterscheibe ab und bildeten feine Wasserfäden. Er schluckte. Ich sah, wie sich sein Adamsapfel ein paar Mal rauf und runter bewegte und seine Lippen zu zittern anfingen. Unweigerlich musste ich an die Liebe denken und daran, wie schmerzhaft es ist, sie zu verlieren. Mich hatte Michael auch verlassen. Das war schon etwas länger her, aber ich kann mich noch gut erinnern, wie sehr ich unter der Trennung litt. Er bedeutete mir so viel. Ich dachte, wir würden für immer zusammenbleiben. Aber dann kam alles anders. Dann kam Angie. Als ich meiner Kollegin Michael vorstellte, konnte ich ja nicht ahnen, dass sie nicht aufgeben würde, solange sie ihn erobert hatte. Hier war die Lage doppelt so schwer: Natalie hatte Tim verlassen und dann ist sie auch noch gestorben, dazu ermordet.
» Es tut mir so leid«, meinte ich. »Ich weiß, wie sehr Sie sie geliebt haben. Ich möchte nicht weiter in Ihrer Vergangenheit rumbohren. Ich glaube, Frau Lehmann hat mir schon alles Wichtige erzählt. Aber wenn ihr Mörder gefasst werden soll, müssen Sie mir helfen. Ich muss wissen, ob Sie bei der Hochzeit etwas gesehen haben. Ob Ihnen etwas Merkwürdiges aufgefallen ist. Egal was. Jede Kleinigkeit zählt.«
Tim drehte sein Gesicht zu mir. Er hatte sich wieder gefasst. Nachdenklich zog er ein paar Mal an seiner Zigarette. »Und was ist mit der Polizei? Wenn ich mit Ihnen rede, muss ich dann auch mit der Polizei reden?«
» Besser wäre es. Nur so können Sie sich von allen Verdächtigungen freisprechen.«
Er verzog sein Gesicht. »Dann bringt es mir ja nichts, mit Ihnen zu reden«.
» Da irren Sie sich. Ich kann Ihnen den Weg zur Polizei ebnen. Der leitende Kommissar hält immer noch viel von mir«, log ich wieder mal. »Wenn ich ihm erst mal erzähle, dass Sie direkt nach der Hochzeit tagelang vor Kummer nicht mehr aus dem Bett kamen, und somit erst durch mich erfahren haben, dass Natalie ermordet wurde, und dass die Polizei Sie sucht, und Sie selbstverständlich bereit sind mit dem Gesetz zu kooperieren, dann ...«
» … dann werden sie mich nicht so hart ran nehmen, wollten Sie sagen, oder?« Ich schaute ihn mit verblüffter Miene an. Er hatte mich durchschaut. Anstatt mich jedoch zum Teufel zu schicken, sagte er ganz ruhig: »Ich weiß wirklich nicht, was es bringen soll, mit Ihnen zu reden, aber Sophia hat es ja auch getan, also ...«. Er zuckte mit den Schultern. » … was solls, bringen wir es hinter uns.« Er paffte ein letztes Mal an seiner Zigarette, drückte sie im Aschenbecher aus und stieß sich von der Tischkante ab. Dann lief er wieder zu dem Bild, das auf der Staffelei stand. »Erkennen Sie sie?«
Ich stellte mich neben ihn und betrachtete flüchtig das Bild. Ich wusste nicht, was er meinte, denn auf der Leinwand bildete eine Explosion von Farben ein abstraktes Kunstwerk und keine definierbare Gestalt.
» Schauen Sie genau hin. Lassen Sie die Konturen der Farben auf sich wirken. Nehmen Sie sich Zeit und benutzen Sie Ihre Fantasie.«
Obwohl ich auf solche Sp ielchen überhaupt keine Lust hatte, konzentrierte ich mich auf das Bild. Trotz meines Versuchs, in den vielen Pinselstrichen ein Motiv zu entdecken, blieben meine Bemühungen auf der Strecke.
Tim wartete geduldig auf meine Reaktion. Als er sah, dass ich aus dem Bild nicht schlau wurde, nahm er meine Hand. Unwillkürlich zuckte ich zusammen, er aber ließ nicht nach und führte meinen Zeigefinger über die Konturen irgendwelcher bunten Striche.
» Sehen Sie es jetzt?«
Ich zwang meine Aufmerksamkeit , sich auf das Bild zu richten, fühlte mich aber nicht gerade sehr wohl mit seiner Hand auf meiner. Nach einigen Augenblicken bildete ich mir jedoch ein, plötzlich ein auftauchendes Gesicht hinter dem Raster aus unterschiedlichen Farbstrukturen zu entdecken. Je länger ich die Umrisse betrachtete, desto deutlicher wurden sie. Auf einmal wurde mir klar, wen ich vor mir hatte: Natalie.
Erstaunlich, was so ein Kunstwerk an Geheimnisse n verbergen kann, und wie ein Sehorgan sich so täuschen lässt.
»Sehen Sie sie jetzt?«, wiederholte Tim, als er meinen überraschten Ausdruck im Gesicht sah. »Wie hätte ich diese Frau je
Weitere Kostenlose Bücher