BLUFF!
schlagartig. Sie fühlte sich akzeptiert und nicht wie sonst immer bei Fehlverhalten gemaßregelt. Die Liquidation der Wahrheit durch die systemische Therapie hatte Wunder gewirkt.
Systemiker gehen also einfach davon aus, dass es ganz viele Welten gibt, in denen wir leben, dass es keine Wahrheit gibt, sondern bloß begrenzte und veränderbare Perspektiven, aus denen wir die Welt sehen können. So sind für sie dann auch alle Psychotherapiemethoden, die es so gibt, nicht wahr oder falsch, sondern bloß mehr oder weniger nützlich. Das vermeidet ideologische Scheuklappen, und es half mir, mich ganz unvoreingenommen mit einer ganzen Reihe von Psychotherapiemethoden zu befassen.
Zugleich war aber klar, dass es dennoch eine bestimmte Perspektive gab, die keiner Psychotherapiemethode zugänglich ist und in der es dann doch um Wahr und Falsch, Gut und Böse, wahre Liebe und bloße Illusion geht, die existenzielle Perspektive nämlich. Denn auch für einen systemischen Therapeuten ist natürlich die Aussage seiner Frau, dass sie ihn wirklich liebe, nicht bloß eine mehr oder weniger nützliche Perspektive auf seine Partnerschaft, sondern etwas Einmaliges, das ihn in seinem Kern betrifft. Auch für ihn besteht der Sinn seines Lebens nicht in mehr oder weniger nützlichen Perspektivwechseln. Und auch für einen systemischen Therapeuten ist es in seinem Privatleben keinesfalls egal, ob ihn jemand belügt oder nicht und ob die Welt, in der er lebt, eine gefälschte Welt aus Pappkulissen ist oder Substanz hat. Für diese existenziellen Erfahrungen hat auch er allerdings nicht mehr Fachkompetenz als das sprichwörtliche alte Mütterchen aus der Eifel.
Doch das ist der Öffentlichkeit nicht bewusst. Für sie sind Psychoexperten verehrungswürdige Gestalten mit einem unheimlichen Geheimwissen über Gott und die Welt. Aber das ist natürlich völliger Unsinn. Im besten Fall kann ein gut ausgebildeter Psychoexperte einen leidenden Menschen mit einer bestimmten Methode möglichst schnell von einem lästigen Waschzwang befreien oder von anderen krankhaften Störungen. Man soll das nicht geringschätzen, denn ein echter Waschzwang kann einem das Leben wahrhaftig zur Hölle machen. Aber, mal ganz im Ernst, was um Gottes willen weiß der hochprofessionelle Psychofachmann durch Kenntnis und Anwendung einer solchen cleveren Methode mehr von Gott und der Welt als Otto Normalverbraucher? Dennoch, ein Psychotherapeut, der seriöserweise bekennen würde, dass er keine Ahnung habe, wie man glücklich werden könne und was überhaupt der Sinn des Lebens sei, und stattdessen lieber eine Geschichte von seiner alten Tante aus der Eifel erzählt, die eine Lebenskünstlerin gewesen sei, läuft Gefahr, für übertrieben bescheiden oder etwas merkwürdig gehalten zu werden. Denn von psychologischen Heilsbringern wie ihm erwartet das gläubige Publikum, ob er nun will oder nicht, die Erfüllung fast aller Wünsche, die rosa Brille für jede Lebenslage, ja man verlangt sie geradezu ultimativ selber, die fachkundige Fälschung der mühsamen Welt.
Woran liegt das? Zum einen neigten schon die Eltern der modernen Psychologie, Sigmund Freud und die Psychoanalyse, wie erwähnt, dazu, übertrieben viel Aufhebens von ihrem angeblichen Weltwissen zu machen. Sie behaupteten ja, hinter der sichtbaren Welt gebe es eine unbewusste psychische Hinterwelt und das exklusive Geheimwissen darüber hätten sie und nur sie. So etwas macht Eindruck, und vom kleinen aufgeweckten Jungen bis hin zum ausgebufften Journalisten gibt es bekanntlich nichts Spannenderes, als hinter ein dunkles Geheimnis zu kommen. Andererseits wird die unbändige Sehnsucht der Menschen nach Heil und Glück in unseren Breiten nicht mehr von den Religionen befriedigt, und so verehrt das heidnische Volk in irgendwelchen Psychotherapiemethoden Heilslehren und in Psychoexperten die Hohepriester einer weltlichen Erlösungsreligion.
Allerdings mag sich mancher Kollege geschmeichelt fühlen, wenn er von Gott und der Welt zu Gott und der Welt befragt wird und dazu dann irgendeine pompöse Antwort zum Besten gibt. Solche Antworten müssen entweder sehr einfach oder sehr unverständlich sein, dann erregen sie am meisten Aufmerksamkeit. Dabei hat in Wirklichkeit ein wackerer Psychiater und Psychotherapeut im besten Fall tagaus, tagein mit irgendwie gestörten Menschen zu tun, denen er mit verschiedenen guten Methoden helfen kann, wieder gesund oder wenigstens erträglich leben zu können. Gerade also wenn
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