BLUFF!
können und sich dadurch immer wieder zu Neuem anregen lassen. Am anderen Ende ist da die kleine völlig subjektive Welt des Psychotikers, der so sehr in seiner eigenen Welt lebt, dass ihn niemand, wirklich niemand mehr versteht. Viel größer aber als bei einem Psychotiker ist die Welt des jahrelang erfassten interaktiven Kunden am Ende vielleicht auch nicht mehr. Es handelt sich hier um nicht mehr und nicht weniger als um die bewusste Fälschung der Welt zu kommerziellen Zwecken.
Gewiss, jeder Händler muss das Kaufverhalten seiner Kunden beobachten, sonst bietet er Waren an, die niemand mehr will. Aber muss das auch heißen, dass man nicht bloß kollektives, sondern auch individuelles Kaufverhalten beobachten, dokumentieren und dann für die Herstellung einer Bespitzelungsakte nutzen darf? Freilich hört man da keinen empörten Aufschrei in der Öffentlichkeit. Erst wenn man etwas sehen kann, wie bei Google Street View, wo Kamerawagen durch die Straßen fahren und alle Häuser präzise fotografieren, um diese Bilder dann ins Internet zu stellen, werden manche und beileibe nicht viele Menschen aufmerksam und setzen sich zur Wehr. Die nicht abgebildeten Informationen, über die diese Firmen verfügen, sind aber letztlich erheblich intimer als alles, was von uns jemals fotografiert werden kann. Und nicht nur das, diese Firmen sorgen mit diesen Informationen auch dafür, dass wir in unserer Freiheit beschränkt werden, indem sie uns eine listig gefälschte Welt vorgaukeln, die keine wirklichen Alternativen mehr kennt – mit großem wirtschaftlichen Erfolg, versteht sich, für sie, nicht für uns.
Die Verharmlosung dieser Gefahren bedient sich immer der gleichen Strategie. Im Grunde sei das alles gar nichts Neues. Das habe es doch früher auch gegeben und das habe niemandem geschadet, man mache das mit Hilfe der neuen Medien eben bloß etwas genauer und das könne doch nicht so schlimm sein. Dabei lässt man geflissentlich unerwähnt, dass es eben ein großer Unterschied war, ob ein DDR -Bürger von seinem arglosen Nachbarn ohne Absicht beim Blumengießen beobachtet wurde oder mit Absicht, mit böser sogar, von einem Stasispitzel. Zwar sind nicht alle ökonomischen Absichten gleich böse Absichten, aber sie können immerhin ähnlich freiheitsberaubende Folgen haben wie die Anschwärzung durch einen perfiden Lauscher an der Wand.
Die verharmlosende Strategie bei Facebook und anderen sozialen Netzwerken läuft ähnlich. Menschen hätten doch immer schon miteinander kommuniziert. Das sei doch etwas Gutes und nichts Schlechtes. Und Facebook mache es möglich, dass man viel mehr Kontakte mit anderen pflegen könne. So weit, so gut und sogar richtig. Doch liest man kenntnisreiche Artikel über die Praktiken von Facebook und anderen Firmen, wird es schnell ungemütlich. Man erfährt, dass Facebook alle, wirklich alle Nachrichten immer mitliest, auch intimste Botschaften, die eigentlich wirklich nur für einen einzigen Menschen bestimmt sind. Wenn man Nachrichten löscht und nun beruhigt glaubt, gelöscht bedeutet das, was das Wort sagt, nämlich wirklich gelöscht, dann heißt das in der Facebook-Welt: Gelöscht für Sie, aber niemals für Facebook.
Der liebe Gott sieht alles, hieß es früher manchmal augenzwinkernd. Doch bei Facebook zwinkert niemand mit den Augen, die Facebook-Leute schauen jederzeit sehr genau hin. Da ist es dann ganz konsequent, dass man dort jetzt ein »Lebensarchiv« eines Teilnehmers anlegt, in dem dann alle Informationen über sein gesamtes Leben gespeichert sind, alles, was er wann getan hat, wo er wann gewesen ist, mit wem er wann einen Kontakt begonnen und beendet hat. Das wäre dann sozusagen die detaillierteste Biographie, die man sich überhaupt vorstellen kann. Alles scheinbar absolut echt. Auf diese Weise verspricht der machtbewusste Konzern, der wie der liebe Gott alles sieht, jetzt auch noch Unsterblichkeit, die digitale Unsterblichkeit nämlich. Und wenn man dann gestorben ist, dann ist man nicht, wie die Christen sagen, von der einen guten Hand Gottes in die andere gute Hand Gottes gewandert, sondern man bleibt profitabler Kunde über den Tod hinaus, indem nun eine digitale Gedenkstätte bei Facebook eingerichtet wird, an der sich Freunde und andere erinnern können.
Nach christlicher Auffassung ist der Mensch nicht ein berechenbarer Roboter, sondern letztlich ein Geheimnis, und genau das ist es, was ihn zum Abbild Gottes macht, der im Kern ebenso Geheimnis ist. In dieser
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