Blumen für den Führer
besonderer Tag«, bemerkte Lydia, als man sich zum Frühstück traf. Sie wurde immer herzlicher zu Reni, fürsorglicher, einfühlsamer. Wie eine gute Freundin eben. Reni aß eine Spatzenscheibe Brot mit etwas Honig, ohne Butter.
Am Nachmittag, als Reni kaum mehr ruhig sitzen konnte, klopfte Lydia im Sturm an ihre Zimmertür.
»Es ist so weit!« Sie flog herein und trug zwei übergroße Tüten. Der Vater wurde förmlich ausgeschlossen. Die neuen Sachen wurden auf das Bett gelegt und nacheinander anprobiert. Lydia strich zärtlich über Renis Taille, fühlte den feinen Stoff und prüfte jede Naht. Es war ein hochgeschlossenes, eng anliegendes Kostüm.
»So etwas kennst du gar nicht, was?«, fragte sie lachend. »Ach, Reni, wie ich dich beneide!«
Einmal klopfte der Vater an die Tür, und Lydia rief sofort: »Lass uns in Ruhe, Ferdinand! Willst du nun was erreichen oder nicht?«
Reni schaute in den großen Spiegel und konnte gar nicht glauben, was sie sah. »Wer ist die fremde Frau?« Sie lachte. Aber die Frage brannte in der Seele. Hinter all dem Spaß verbarg sich tiefer Ernst, das spürte sie genau und wurde hilflos rot. Dann sagte sie: »So etwas möchte ich nicht tragen heute Abend … Sind Sie mir böse?«
»Ach i wo. Ich habe noch eine wirkliche Überraschung für dich.« Lydia holte einen flachen Pappkarton hervor. Als sie den Deckel hob, sah Reni einen Stoff, der ihr sofort gefiel. Es war ein warmer Cremefarbton, hinter dem ein Stück rosa Tüll vorlugte.
»Nimm es heraus!«
Reni schüttelte den Kopf.
»Na komm!« Lydia griff selbst hinein. Es war ein Chiffonkleid – und einfach nur ein Traum, fand Reni. Es hatte eine Taille und war über einem festen Abschluss, der den tiefen Ausschnitt formte, über der Brustpartie gerafft. Die schönen engen Falten führten zu den Schultern hoch. Nach unten war
das Kleid weit ausgestellt und fiel bis auf den Boden. Hinten gab es eine kurze Schleppe. Reni hätte sofort weinen können, aber das Dekolleté machte ihr Angst, der tiefe Rücken ebenfalls.
In Haus Ulmengrund trugen die Mädel entweder offene Zöpfe oder sogenannte Krähennester, oft auch nur ein Kopftuch, damit das Haar beisammenblieb. Die Kleider waren lang und weit, sie hatten Blumenkragen, hübsche Spitzenrüschen an den kurzen Ärmeln, wenn es warm und sonnig war. Die Stoffe waren fest und dicht gewebt und hatten bunte Karos, kleine Punkte oder waren eng kariert – es waren Mädchenkleider, Mädchenschuhe oder -stiefel, Mädchenschürzen, Mädchenjacken. Reni war daran gewöhnt. Die Erzieherinnen trugen gleichartige Kittel und im Winter lange Mäntel; man erkannte sie schon aus der Ferne. Nur Frau Misera trug als Leiterin Zivil. Für Sonn- und Feiertage, oder wenn der Graf … der Vater die monatliche Inspektion vornahm, besaß sie ein Kostüm in grau gedeckten Farben.
»Und das gehört dazu …« Lydia breitete den Tüll aus: Es war ein kurzes Cape, hauchzart und beinah nichts als rosa Luft. »Man trägt es leicht über die Schulter geworfen, das macht den Ausschnitt interessanter, verstehst du?« Sie lachte kess.
Reni wurde wieder rot, es quälte sie. Sie wollte tapfer sein. Aber es war wie bei dem Neger mit den Eierkohlenlippen: Sich etwas auszumalen, war die eine Seite der Medaille …
»Ein bisschen Mut gehört zum Spiel«, erklärte Lydia geheimnisvoll. »Hör mir mal zu: Du glaubst ja selbst nicht, dass du immer so ein Mädel bleiben kannst. Zwei, drei Jahre, dann bist du eine erwachsene Frau. Und genauso, wie diese Zukunft auf dich zukommt, gehst du ihr entgegen. Was wir tun, ist bloß, dass wir das Ganze ein bisschen vorbereiten.«
Reni lächelte verlegen.
»Ob diese Zukunft morgen kommt oder schon heute Abend …«, fügte Lydia hinzu und nahm Renis Hände. »Komm, zieh es an! Du darfst auch ein paar Tränen weinen, wenn du nachher in den Spiegel guckst. Und wenn du nicht heulst, tu ich es eben.«
Sie lachten befreiend. Lydia gab Reni einen Freundschaftskuss. Dann half sie ihr, sich umzuziehen. Das Kostüm wurde ordentlich gefaltet und in den Schrank gelegt. »Du wirst es lieben, wenn du dich erst mal sicherer fühlst.«
Reni stieg in das Chiffonkleid. Es war wie eine zweite Haut, obwohl es nicht nach Maß für sie geschneidert worden war.
»Das ist kein Zufall«, stellte Lydia fest. »Manche junge Frauen haben einfach die ideale Figur …« Sie zupfte an den Falten oberhalb der Brustpartie und an den Schultern. Dann lenkte sie Reni rückwärts vor den Spiegel. »Jetzt öffnen
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