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Blumen für den Führer

Titel: Blumen für den Führer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Seidel
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wir das Haar.«
    »O nein!«
    »O doch.« Lydia löste das Geflecht der Zöpfe. »Abrakadabra … aus einem Mädel wird im Handumdrehen eine erwachsene Frau.« Sie wuschelte mit beiden Händen durch das dichte blonde Haar.
    Reni schüttelte den Kopf, ein bisschen widerspenstig, aber es bewirkte nur das Gegenteil. Das Haar verteilte sich noch weiter und floss wie frisch gesponnenes Märchengold über beide Schultern.
    Lydia sagte: »Ich will, dass du jetzt weinst vor Glück.«
    Und Reni wehrte sich nicht mehr. Was sie im Spiegel sah, war überwältigend. Sie drehte sich und schaute seitlich, breitete die Arme aus, neigte den Kopf und lächelte. Sie musste überhaupt nicht weinen! Erst als Lydia ihr das rosa Cape umlegte,
füllten sich die Augen flüchtig, aber ihre Hemmung war mit einem Mal verschwunden, und auch die Angst vor dieser fremden Frau im Spiegel hatte sich gelegt.
    »Jetzt rufen wir deinen Vater herein«, schlug Lydia vor. Reni fühlte einen leichten Schreck, aber sie war einverstanden. Die Freundin schob das Haar zusammen und steckte es im Nacken hoch. Reni wurde ernst; nun sah sie noch erwachsener aus. Lydia drehte den Schlüssel in der Tür und rief: »Jetzt darfst du zu uns kommen, Ferdinand!«
    Reni spähte durch die Tür ins andere Zimmer. Der Vater legte die Zeitung und seine Lesebrille auf den Tisch, stand auf und kam herüber. Reni drehte sich herum und fühlte wieder ihre heißen Wangen. Sie faltete die Hände, weil sie nicht wusste, wie man seine Arme hielt – wie eine Frau in diesem Kleid die Füße stellte und welcher Blick angemessen war. Sie schaute auf den Boden und wartete gespannt.
    Der Vater hob die Hand und berührte ihr Kinn. »Sieh mich doch einmal an, Renata. Weißt du, dass du das Schönste und das Wertvollste in meinem Leben bist?«
    Sie konnte seine Rührung sehen und musste selbst die Lippen pressen, um jetzt nicht doch zu weinen. Sie fasste seine Hände und küsste sie, das hatte sie noch nie getan. Wenn Friedel und die anderen Mädel sie hier sehen könnten! In diesem Kleid. Oder Frau Misera. Ob sie verstehen würden, was mit ihr passierte? Ob sie verstünden, dass es ihre Pflicht war, die Veränderungen zuzulassen?
    »Ich bin sehr, sehr stolz auf dich«, sagte der Vater. »Der heutige Tag und Abend sind etwas Großes und Besonderes, und ich bin überzeugt, du hast verstanden, worum es geht.«
    Reni sagte ohne Zögern Ja.
    Sie spürte den Ernst noch tiefer in ihr Herz vordringen.
Das Erwachsenwerden, das ist nicht bloß etwas über Liebe lernen, sondern Verantwortung und Pflicht. Es waren solche Dinge, deren Gewicht sie bis hierher, weil sie noch Kind gewesen war, nicht wirklich hatte fühlen können. Eine Ahnung hatte sie gehabt: Berlin, der Führer und die Welt! In diesem Kleid fühlte sie die Wahrheit der Veränderungen, des großen Neuen, an das der Vater dachte, die Zukunft … ihre eigene große Zukunft an der Seite des Papas! Davon hatte in Ulmengrund niemand eine Ahnung, davon war sie überzeugt. Nicht mal Frau Misera.
    »Ich freue mich«, sagte der Vater einfach und machte eine Gebärde, die Reni auffiel. Es war ein kleiner Wink in Lydia von Treschkes Richtung, die ihn offenbar genau verstand. Reni drehte sich zurück zum Spiegel und sonnte sich, badete in den Gefühlen. Alles ist so neu und unverdorben, dachte sie. Der Vater nickte und verstärkte damit noch ihr Glück.
    »Nun sieh sie dir bloß an«, sagte Lydia und wischte sich über ihre Wangen. »Ist sie nicht ein Engel?«
     
    Reni schaute in den Badezimmerspiegel.
    Zum ersten Mal in ihrem Leben trug sie Farbe auf den Lippen. So vieles geschah zum ersten Mal. Kirschfarbe und zu dunkel, fand sie. Lydia hatte sie ihr aufgetragen. Dann gab es Wäsche und Seidenstrümpfe. »Das musst du jetzt erleiden«, hatte Lydia zum Spaß erklärt. »Du Süße! Du wirst noch wach geküsst, pass auf!«
    Das hatte Reni nicht gefallen, aber sie hatte nichts gesagt.
    Und mehr noch: Lydia hatte ihr unter die Augen schwache Schatten gemalt, die sie älter machten. Auch das gehöre zu dem Chiffonkleid, hatte Reni erfahren. Die Strümpfe fühlte sie als etwas Fremdes auf der Haut, es kitzelte an manchen
Stellen. »Man sieht sie doch gar nicht«, hatte Reni eingewendet. Lydia winkte ab. »Nicht durch das Kleid. Aber es geht ums Haben und ums Tragen. Das lernst du noch.«
    Der Vater klopfte an die Badezimmertür. »Renata, bist du fertig? Es ist schon neunzehn Uhr. Wir sollten langsam gehen …«
    »Sofort«, rief sie. Äußerlich war sie

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