Blut & Barolo
Scharfe der Blumenzwiebeln, das modernde Holz, die ruhende Kraft der Wurzeln, das Erwachen der Insekten und Würmer – sowie das Züngeln einer Trüffel?
Giacomo traute seiner Nase nicht.
Dort! Tatsächlich, eine Trüffel. Sie schaute mit der Spitze bereits aus der Erde. Was machte sie bloß hier am Ufer? Der Boden bot kaum Kalk, und der Haselnussstrauch über ihr war mickrig und alt. Giacomo fuhr mit der Pfote darüber, sie war klein, doch von intensivem Duft. Lange musste sie hier gewartet haben, das sah Giacomo dem schrumpeligen Klumpen gleich an. Er hob sie heraus, kratzte mit seinen Pfoten zärtlich den Dreck davon – und verschlang die Trüffel. Doch der Hochgenuss ließ den alten Lagotto unglücklich werden. Wie ein Verdurstender, der einen Tropfen Wasser fand und dadurch nur noch mehr um die Köstlichkeit des feuchten Nasses wusste, so warf die Herrlichkeit der kleinenTrüffel einen Mantel der Sehnsucht über Giacomo. Er wollte endlich heim, oder noch besser: in diesen Himmel. Nur noch diese Nacht, welche Isabella die Freiheit bringen sollte, dann musste es doch genug an guten Taten sein, um zu seinem Trifolao in die unendlichen Trüffelfelder des Paradieses hinübergehen zu dürfen.
Giacomo legte seinen alten Kopf schräg und blickte lange auf den Ort der Entscheidung, wo das schmelzende Eis unentwegt knackte. Er stand am Westufer des Po, in einem Ausläufer des Parco del Valentino, dessen Borgo Medievale lichtlos am vereisten Fluss kauerte. Maria Grazia hatte sich dorthin zurückgezogen, denn dies war nicht ihr Kampf. Sie wartete auf die Rückkehr des Conte Rosso, auf eine Renaissance der goldenen Zeiten, auf jemanden, der sie brauchte. Nur sie.
Über die Ponte Umberto I. war schon lange kein Auto mehr gefahren. Die Stadt, welche ihre Sommernächte so schamlos auskostete, sammelte in denen des Winters Kraft und schlief früh ein. Das zwischen den Ufern eingeklemmte Eis wirkte nicht mehr weiß, denn unzählige Menschen waren darüber gelaufen und geschlittert, ihre Spuren glänzten wie poliert, an einigen Stellen schien der dunkle Grund des Flusses durch. Über allem lagen die scharfen Spuren der Schlittschuhe, wie unendliche Spaghettini. Giacomo bekam großen Hunger.
»Es wird alles gutgehen, wirst schon sehen«, sagte Daisy und stupste ihn von hinten an.
»Hm.«
»Ich wollte dir noch was sagen, bevor es losgeht. Vielleicht hast du es ja nicht gemerkt, ihr alten Rüden seid ja manchmal schwer von Begriff, aber ich kann dich gut leiden.«
»Das sagst du doch nur, weil es gleich mit mir zu Ende geht?«
»Was bist du nur für ein dummer, verstockter Lagotto!«
Sie lief fort, bevor Giacomo sich entschuldigen konnte. Mit ihr würde er später noch reden müssen. Lange reden.
Die hergelockten Menschen wurden derweil immer unruhiger. Sie saßen auf den schmalen betonierten Uferstreifen, die nicht viel breiter als eine Pizzaschachtel waren, und rieben sich die Arme, hauchten in die Hände und wippten unentwegt mit den Füßen. Beäugt von den Wölfen, die nun auf dem Eis lagen. Einige schienen zu schlafen, doch näherte sich ihnen ein Mensch bei seinen Aufwärmversuchen, waren sie binnen eines Lidschlags auf den Beinen. Am gegenüberliegenden Ufer, im Schatten des Brückenpfeilers, hielten drei Grauröcke die junge Polizistin in Schach. Dort drüben erhob sich das Land und verschmolz mit der Dunkelheit des Himmels zu einer endlosen Finsternis.
Die Menschen mussten schreckliche Angst haben, denn ihre Welt hatte sich auf den Kopf gestellt. Die Diener hatten aufbegehrt und ihre einstigen Herren nun in der Gewalt. Doch Angst war gut, denn trotz der Kälte bedeutete sie Schweiß, und der würde ihn zum Täter führen. Aber noch immer fehlte Canini mit Saada, und die Signora war ebenfalls noch nicht eingetroffen.
Unter Giacomo floss im Verborgenen der Po, nicht zu sehen wegen der Eisschicht. Entsprungen in den Cottischen Alpen, durchquerte er Städte, aber auch viele Felder und Wiesen sowie die nach ihm benannte Ebene, auf der die Menschen Gemüse, Früchte und Getreide anbauten, bis der Strom sich schließlich teilte und in die Adria ergoss. Sein Trifolao erzählte Giacomo oft davon, wie sehr er den größten Fluss Italiens verehrte, vielleicht weil er ihn nie hatte sehen dürfen. Der Abschnitt vor den Augen des alten Hundes war nur ein Bruchteil des langen Bandes, das Italien gleichermaßen teilte und einte.
Der Mann mit der Sonnenbrille – er hatte sie nun hochins Haar geschoben – griff plötzlich
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