Blut & Barolo
nicht die Gasse hinunter Richtung Duomo geschaut, es hätte ein ruhiger Nachmittag werden können. Wie Beeren an einer prallen Weintraube scharten sich die Menschen dort um den weißgekleideten Alten, der vor den Pforten der Kirche predigte. An seiner Seite saßen weitere Männer in Gewändern und mit Häubchen auf den Köpfen. Er hielt eine lange Rolle in die Höhe und zog sie andächtig auseinander.
»Das ist doch nicht wirklich das, was ich denke?«, fragte Niccolò, legte seinen Kopf schief und die Stirn in Falten. »Sieht genau aus wie das Tuch.«
Wie war der Weißhaarige nur darangekommen? Giacomo hatte es doch im Wald verbuddelt! Aber nun hielt dieser Mann es tatsächlich in seinen schrumpeligen Händen. Obwohl er so kraftlos aussah, als könne er einem Hund nicht mal ordentlich den Ball zuwerfen.
»Ohne das Tuch bekommen wir Isabella nie frei«, sagte Niccolò.
»Was soll das heißen?«
»Der Schlüssel! Das Ding ist der Schlüssel. Und den hol ich mir jetzt.«
»Sag mal, spinnst du?«
Doch das Windspiel sprintete bereits los. Kaum an Geschwindigkeit verlierend, glitt es durch die Menschenmenge. Die engen Lücken zwischen den Beinen waren für den zierlichen Niccolò breit wie Täler, auch zwischen den ineinandergehakten Absperrgittern jagte er problemlos hindurch – sie waren einfach nicht windhundsicher.
Natürlich gab es Carabinieri, sie sollten die Piazza Giovanni sichern. Einen amoklaufenden Menschen hätten sie bestimmt zu Fall gebracht. Aber ein Windspiel? Niemals. Wie ein Pfeil näherte sich Niccolò dem alten Mann, der gar nicht zu bemerken schien, was ihm da am Boden entgegen- schoss. Er sprach leiernd weiter und hielt das Tuch nun wieder zusammengerollt in die Höhe.
Doch nicht hoch genug.
Wenn eine Hunderasse den Flugkünsten von Vögeln nahekam, so waren es Windspiele. Mit Leichtigkeit hob Niccolò ab, kraftvoll und elegant. Giacomo sah ihn wie in Zeitlupe, denn das in seinem Körper brodelnde Adrenalin ließ die Räder der Welt langsamer drehen. Niccolò öffnete sein Maul und zog die Lefzen weit hoch, sein Körper ein grauer Keil in der Luft. Jetzt erst nahm ihn der weißhaarige Mann wahr, stoppte seinen Sermon, folgte mit dem Blick erstaunt dem fliegenden Niccolò und streckte den Arm mit dem Sindone instinktiv höher. Trotzdem schloss sich Niccolòs Maul auf dem Scheitelpunkt der Flugbahn langsam darum und riss das Tuch mit sich hinab auf den Erdboden.
Jetzt lief die Zeit für Giacomo wieder in normalem Tempo ab. Und das war gut so. Denn er musste nachdenken. Niccolò hatte sich in eine unmögliche Situation gebracht. Wie sollte er mit der sperrigen Rolle zwischen den Straßengittern hindurch und die Menschenbeine umkurven? Zudemrannten mittlerweile ein gutes Dutzend Carabinieri auf ihn zu, von allen Seiten kamen sie.
Gespenstisch war die Stille, keiner sagte etwas, nicht mal ein Raunen drang aus den Kehlen der Zuschauer. Starr vor Schock standen sie da, die Münder geöffnet wie an Land verendete Fische.
Niccolò wurde langsamer. Nur eine Spur, doch Giacomo bemerkte es. Das Windspiel hatte nun auch begriffen, worüber es – impulsiv und unüberlegt wie immer – vergessen hatte nachzudenken.
Also, dachte Giacomo, musste er für ihn denken. Für diesen dummen kleinen Burschen.
Für dieses unglaublich mutige Windspiel.
Der alte Trüffelhund legte die schützende Leine samt Halsband ab und heulte so laut auf, dass ihm die Lunge schmerzte. Die Menge drehte sich um.
Unendlich viele Finger deuteten mit einem Mal auf Giacomo.
Selbst der des alten Mannes.
Das Aufheulen des Freundes riss Niccolò aus seiner Trance, die nur Platz für das Sindone gelassen hatte. Jetzt stürzten all die Gedanken auf ihn ein, die in den letzten Sekunden außen vor bleiben mussten. Ein Fluchtweg. Er brauchte einen Fluchtweg! Die Straßengitter waren bis zum Glockenturm des Duomo aufgebaut. Dort stand ein Zelt, in dem ein Mann vor einem Pult saß.
Sonst niemand.
Niccolò schlug einen Haken, rannte zwischen zwei ihm entgegenkommenden Carabinieri hindurch und stürmte auf das Zelt zu. Er war einmal einer Rotte Wildschweine entkommen, was konnten ihm da ein paar Carabinieri anhaben? Und etliche greise Priester? Die hatten sich nun nämlich auch auf die Jagd nach ihm begeben.
Niccolò rannte so schnell, dass er nichts mehr hörte außer dem Rauschen des Windes in seinen Ohren. Nicht die Befehle, nicht das Gebrüll. Jetzt kam alles auf diesen Sprung an. Er musste nicht lang sein, nur exakt. Genau
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