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Blut & Barolo

Titel: Blut & Barolo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Sebastian Henn
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die Füße steckten in Filzpantoffeln. Sein Haupt war ohne Haare, sein Gesicht bestand aus Bergen und Tälern, Schweißperlen darin wie salzige Seen. Der Mund des Priesters war leer, denn die Zähne lagen in einem Glas auf der Anrichte. Doch seine trockenen, blassen Lippen bewegten sich.
    »Es ist echt, wirklich echt! Ich muss dem Kardinal Bescheid geben. Das Schicksal hat es zu mir gebracht.«
    Dann beugte er sich hinunter, um das Sindone zu küssen. Es nahm ihn so mit, dass er in seinem Plastikstuhl zusammensank und zu weinen begann.
    In diesem Moment schlug Giacomo zu.
    Er schloss seinen Kiefer wie eine Zange um einen Zipfeldes Sindone, riss es vom Tisch und rannte durch die Diele zum Badezimmer. Er hörte die Schritte hinter sich, begleitet von einem unmenschlich klingenden Greinen. Die Filzpantoffeln verursachten kaum Geräusche, doch Giacomo achtete genau auf sie. Kurz bevor der Priester den Türrahmen passierte, brüllte er: »Los!« – und Niccolò startete. Er lief dem Mann direkt vor die Füße, so dass dieser wie ein gefällter Baum zu Boden stürzte. Wäre Niccolò kein Windspiel gewesen, sondern ein Basset, niemals hätte er schnell genug entkommen können. Giacomo hatte extra angehalten, um zu sehen, wie es dem Freund erging. Doch nun lief auch er wieder los, ins Badezimmer, über den Klodeckel durchs Fenster. Er hörte noch im Flug, wie das Sindone sich am Rahmen auftrennte, riss, doch es blieb vollständig, kein Arm, kein Bein, nicht der Kopf des Gottessohns ging verloren.
    Dann wurde ihm klar, dass er nicht über die Landung nachgedacht hatte.
    Unter ihm lag Dunkelheit, doch Giacomo wusste um den eisverkrusteten Beton. Der würde nicht nachgeben wie weiche Walderde. Er ließ Dinge zerbersten, die aus großen Höhen auf ihn trafen. Vasen, Gläser, Lagottos.
    Doch jemand anders hatte sich für ihn das Hirn zermartert. Amadeus schob gerade mit seinen Schergen einen Schneehaufen zusammen. Der weiße Berg besaß scharfe Krusten, war durchsät mit Kies – doch mehr hatte die Stadt nicht zu bieten.
    Es reichte.
    Für Giacomo und Niccolò.
    Flüche und Verwünschungen schossen nun aus dem Badezimmerfenster auf sie herab wie Hagel. Es blieb nicht dabei. Kurze Zeit später warf der Priester Daisy herunter, mit aller Wucht, als wäre sie ein Felsen, der alle erschlagen sollte. Sie landete auf Giacomo, der weicher als jeder Schnee war.
    »Er wird uns durch die Haustür verfolgen. Wir müssen fliehen!«, sagte Niccolò.
    In diesem Moment begann donnernd der Regen. Er fiel schnell und hart, fühlte sich an wie Scherben. Je schneller sie zur Porta Nuova gelangten, desto besser für das heilige Tuch.
     
    Der Spürer hob sein Haupt. Unter der Decke der riesigen Schalterhalle des Hauptbahnhofs flatterten Tauben.
    »Hier? Seid ihr euch sicher?«, fragte der blinde Border Collie. »Kein Platz für Tiere, finde ich. Aber vielleicht fühlen sich diese verkümmerten Stadtköter hier ja wohl. Zumindest ist es trocken.«
    Die Taube auf seinem Rücken gurrte zustimmend.
    »Wie lang dauert’s denn noch? Der Weg war irre weit, ich hab keine Lust mehr zu warten.«
    Mit starkem Flügelschlag hob die Taube ab und flog zu ihren Artgenossen in die Höhe. Einige Male umkreisten sie sich, dann kehrte das Tier zum Spürer zurück. Sanft landete es auf dessen Rücken, ruckte mit dem Kopf, schlug die roten Augen mehrfach zu und gurrte dreimal kurz.
    »Sehr gut«, sagte der Spürer. »Und klasse, dass Giacomo dabei ist. Er wird sicher keinen Widerstand leisten.«
    In einem aufgerissenen Pappkarton machte es sich der Spürer bequem. Es war ihm lieber, nicht direkt gesehen zu werden. Er zog es vor, Situationen in aller Ruhe abzuschätzen, bevor er anderen seinen Willen aufzwängte. Da sie ihn hier in Turin nicht kannten, würde er sich den Stärksten der Meute vornehmen müssen. Ein einziger erfolgreicher Kampf, und die Herrschaft gehörte ihm.
    Es stank nach nassem Hund, als die Meute eintraf. Giacomo bildete die Spitze, in seinem Maul das wieder aufgerollte, leicht fleddernde Sindone. Alle Angelegenheiten des Todes und des Schmerzes waren dem Spürer wohlbekannt, dochihm wurde sogleich klar, dass dieses Tuch größer und bedeutender war als alles zuvor. Er wollte es unbedingt, spürte den Tod in ihm, aber auch einen Hauch Leben. Er wusste nichts über Gott, Himmel oder Hölle. Für den Spürer gab es nur Seelen, die eine Zeit am Ort ihres Hinübergleitens verhaftet blieben, bevor sie sich für alle Zeiten auflösten. Er hatte gelernt,

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