Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)
Sie, wann sie die Wohnung in Savannah gemietet hat?«
»Sie hat mir gegenüber angedeutet, es sei vor einigen Monaten gewesen.«
»Möglicherweise im April oder im Mai. Diesen Frühling war der Pollenflug wirklich eine Plage. Es sah aus, als wäre alles mit gelbgrüner Farbe eingenebelt worden. Eine Weile konnte ich nicht mehr draußen joggen oder radfahren. Wenn ich die Pollen eingeatmet habe, sind mir Augen und Kehle zugeschwollen.«
»Nach der aufgerissenen Schachtel und dem Folienstreifen auf dem Boden zu urteilen, hat sie letzte Nacht offenbar Betadorm geschluckt«, sage ich zu ihm. »Gleich zwei Tabletten. Also muss sie unter starken Symptomen, möglicherweise an Atemnot, gelitten haben. Doch das wissen wir erst, wenn bei der toxikologischen Untersuchung Diphenhydramin entdeckt wird.«
»Vielleicht hatte sie ja eine schwere allergische Reaktion auf etwas, was sie gegessen hat. Das Sushi? War sie allergisch auf Meeresfrüchte?«
»Oder sie hat aus Atemnot, Schluckbeschwerden und starker Müdigkeit auf eine allergische Reaktion geschlossen«, erkläre ich ihm, während ich weitere Kosmetika zur Hand nehme, um festzustellen, wo sie gekauft worden sind. »Wie Sie wissen, hieß es heute Morgen im Gefängnis, dass Kathleen Lawler nach dem Hofgang Schwierigkeiten beim Atmen hatte. Sie soll auch über Sprachstörungen und Müdigkeit geklagt haben. Bei diesen Symptomen könnte eine schlaffe Lähmung vorgelegen haben.«
»Und was genau ist das?«
»Die Nerven stimulieren die Muskeln nicht mehr. Für gewöhnlich fängt es am Kopf an. Die Lider werden schwer, man sieht verschwommen oder doppelt, und man entwickelt Sprechstörungen und Schluckbeschwerden. Wenn die Lähmung weiter nach unten wandert, kommt es zu Atemnot, gefolgt von Lungenversagen und Tod.«
»Und wodurch wird es ausgelöst? Was für eine Substanz könnte die Symptome verursachen, die Sie gerade geschildert haben?«
»Ich muss da spontan an ein Nervengift denken.«
Ich erzähle ihm von Dawn Kincaid, Kathleen Lawlers leiblicher Tochter, die in Massachusetts wegen mehrerer Gewaltverbrechen, unter anderem eines Mordanschlags auf mich, angeklagt ist. Heute Morgen habe Sie in ihrer Zelle im Butler Hospital über Atembeschwerden geklagt und einen Atemstillstand erlitten. Dem Vernehmen nach sei sie hirntot, und ich erkläre Chang, die dortigen Behörden gingen von einer Vergiftung aus.
»Mir ist nicht bekannt, dass Jaime allergisch auf Meeresfrüchte war, außer sie hatte diese Überempfindlichkeit erst seit kurzem«, fahre ich fort. »Allerdings kann eine anaphylaktische Reaktion auf Meeresfrüchte zu einer schlaffen Lähmung und zum Tod führen. Wie andere Gifte auch. Offenbar hat Jaime häufig im selben Drugstore eingekauft, bei Monck’s. Man sollte alles, was sie von dort hatte, gründlich unter die Lupe nehmen. Das heißt, sämtliche Kosmetika, und die rezeptfreien und rezeptpflichtigen Medikamente, nur um auszuschließen, dass sie es absichtlich getan oder dass jemand eines der Produkte manipuliert hat.«
»Sie meinen im Ladenregal?«
»Wir müssen alle Möglichkeiten in Betracht ziehen und eine sorgfältige Bestandsaufnahme aller Gegenstände in dieser Wohnung durchführen«, wiederhole ich. »Schließlich wollen wir kein Gift übersehen und es versehentlich liegen lassen.«
»Halten Sie einen Selbstmord für möglich?«
»Das glaube ich nicht.«
»Oder könnte sie versehentlich etwas genommen haben?«
»Jemand hat sie vergiftet, und zwar absichtlich und mit Vorsatz. Für mich lautet die wichtigste Frage: womit?«
»Gut, dann gehen wir mal davon aus, dass ihr jemand etwas ins Essen getan hat«, erwidert er. »Was, meinen Sie, könnte das gewesen sein? Was gibt es denn für Nervengifte? Nennen Sie mir ein paar Beispiele.«
»Jedes Gift, das Nervengewebe zerstört«, erkläre ich. »Die Liste ist lang. Benzol, Aceton, Ethylen, Glycol, Kodein, Phosphat, Arsen.«
Ich glaube allerdings nicht, dass Jaime in Kontakt mit Benzol, Frostschutzmittel oder einem Haushaltsprodukt wie Nagellackentferner gekommen ist. Ihr wurde auch kein Unkrautvernichtungsmittel oder Hustensaft ins Sushi oder in den Scotch gemischt. Solche Vergiftungen sind normalerweise Folge eines Versehens oder einer Handlung im Affekt und nicht der Stoff, aus dem meine Albträume sind. Die Dinge, vor denen ich mich fürchte, sind weitaus gefährlicher. Chemische und biologische Kriegsführung. Massenvernichtungswaffen, die aus Wasser, Pulver oder Gas bestehen und uns mit dem
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