Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)
Staatsanwaltschaft und Polizei griff sie den fünfunddreißigjährigen Arzt und seine dreißigjährige Frau Gloria im Bett an und stach wiederholt mit einem Messer auf sie ein, bevor sie den Flur entlang zum Zimmer der Zwillinge, eines Jungen und eines Mädchens, ging. Man nimmt an, dass die fünfjährige Brenda von den Schreien ihres Bruders geweckt wurde und versuchte, über die Treppe zu fliehen. Ihre mit einem Pyjama bekleidete Leiche wurde an der Eingangstür gefunden. Wie ihre Eltern und ihr Bruder Josh war sie erstochen und so grausam verstümmelt worden, dass ihr beinahe der Kopf abgetrennt wurde.
Einige Stunden nach den Morden kehrte die achtzehnjährige Lola Daggette zu dem offenen Wohnheim zurück, in dem sie wegen Drogenmissbrauchs untergebracht war. Eine Mitarbeiterin ertappte Daggette dabei, wie sie im Badezimmer blutige Kleidungsstücke auswusch. Laut DNA-Untersuchung stammte dieses Blut von der ermordeten Familie.
Nach der heutigen Entscheidung des hohen Gerichts hat Daggette sämtliche Rechtsmittel auf staatlicher und Bundesebene ausgeschöpft. Ihre Hinrichtung durch eine tödliche Injektion soll im Frühjahr im Georgia Prison for Women stattfinden.
In den anderen Artikeln, die ich überfliege, geben ihre Verteidiger an, sie habe einen Komplizen gehabt, der diese Morde verübt habe. Lola Daggette habe das Haus der Jordans nie betreten, sondern draußen Schmiere gestanden, während ihr Komplize dort einbrach, sagten die Anwälte. Die Argumentation der Verteidigung gründet sich einzig und allein auf die angebliche Existenz eines unbekannten Mittäters, dessen Personenbeschreibung fehlt. Dieser Mittäter habe sich Lolas Kleidung ausgeliehen und sie anschließend angewiesen, die Sachen zu beseitigen oder zu säubern, vermutlich sogar in der Absicht, ihr das Verbrechen unterzuschieben. Lola selbst sagte im Prozess nicht aus, und ich verstehe, warum die Geschworenen nur knapp drei Stunden brauchten, um zu einem Schuldspruch zu kommen.
Eigentlich hätte sie im vergangenen April hingerichtet werden sollen, erhielt aber einen Aufschub, nachdem bei einer anderen Hinrichtung ein Fehler geschah, sodass eine zweite Dosis der tödlichen Chemikalien verabreicht werden musste und sich das Sterben des Verurteilten doppelt so lang hinzog wie gewöhnlich. Ergebnis war, dass ein Bundesrichter die Hinrichtungen von Lola Daggette und fünf männlichen Häftlingen im Coastal State Prison stoppte, und zwar mit der Begründung, er brauche Zeit, um festzustellen, ob die in Georgia durchgeführten Hinrichtungen mit der Giftspritze die Verurteilten einem langen und schmerzhaften Tod aussetzten, was eine grausame und unverhältnismäßige Bestrafung bedeute. Vermutlich werde der Staat Georgia die Hinrichtungen wiederaufnehmen. Lola Daggette werde wahrscheinlich die Erste sein.
Ich sitze im Transporter und verstehe die Welt nicht mehr. Warum hat Lola Daggette den Täter all die Jahre lang geschützt, wenn sie ihn kennt und die Morde nicht begangen hat? Und nun schweigt sie weiter, obwohl sie in wenigen Monaten hingerichtet werden soll? Aber vielleicht redet sie ja inzwischen. Jaime Berger war in Savannah. Sie hat Lola Daggette vernommen. Möglicherweise auch Kathleen Lawler, der sie eine vorzeitige Entlassung in Aussicht gestellt haben könnte. Doch was geht dieser Fall eine Staatsanwältin aus Manhattan an? Oder stehen die Morde an den Jordans und der Fall Dawn Kincaid im Zusammenhang mit einem Sexualdelikt in New York City?
Und eine noch wichtigere Frage: Wenn Jaime sich für Kathleen und ihre diabolische Tochter Dawn interessiert, warum hat sie sich dann nicht mit mir in Verbindung gesetzt? Doch offenbar hat sie das gerade getan, halte ich mir vor Augen, als ich den winzigen, zerknitterten Zettel neben mir auf dem Sitz betrachte. Dann denke ich an den gewalttätigen Übergriff im letzten Februar, der mich fast das Leben gekostet hätte. Jaime hat mich weder angerufen noch mir eine Mail geschickt oder sich nach meinem Befinden erkundigt. Wir waren zwar nie eng befreundet, doch ihre offensichtliche Gleichgültigkeit hat mich verletzt und erstaunt.
Ich stecke das iPad wieder in die Aktentasche, nehme die Visa-Karte aus der Geldbörse und steige aus. Dicke, kühle Regentropfen fallen mir auf den Kopf. Ich hebe den Telefonhörer ab und tippe eine Null und die Nummer ein, die Kathleen Lawler auf den Kassiber geschrieben hat. Jaime Berger meldet sich beim zweiten Läuten.
7
»Ich bin es, Kay Scarpetta …«, setze ich
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