Blut: Ein Kay-Scarpetta-Roman (German Edition)
lebte und eigentlich geistig zurückgeblieben ist.« Marino sieht Jaime an. »Was für einen IQ hat sie? Siebzig? Ich glaube, damit gilt man im Sinne des Gesetzes als zurückgeblieben«, fügt er hinzu.
»Lola hat die Verbrechen, für die sie vor Gericht gestellt und verurteilt wurde, nicht begangen«, stellt Jaime fest. »Ich bin zwar nicht so gut über die Vorgänge in den frühen Morgenstunden des 6. Januar informiert, wie ich es gern wäre, habe jedoch inzwischen neue Beweise, dass die Person im Haus der Jordans nicht Lola war. Wie die Sachlage vom forensischen Standpunkt her aussieht, kann ich nicht beurteilen, weil ich keine Expertin bin. Die Verletzungen zum Beispiel. Wurden sie den Opfern mit ein und derselben Waffe zugefügt, und wenn ja, was für eine Waffe war das? Was hat die Verteilung der Blutstropfen zu bedeuten? Wie lang waren die Jordans schon tot, als der Nachbar seinen Hund ausführte, zufällig die zerbrochene Scheibe an der Hintertür bemerkte und dann stutzig wurde, weil niemand die Tür aufmachte oder ans Telefon ging?«
»Colin hat das nötige Fachwissen«, merke ich an.
»Ich habe einen guten Pinot aus Oregon da, wenn du magst«, sagt Jaime.
Während sie die Flasche entkorkt, betrachte ich Fotos von Barrie Lou Rivers auf dem Autopsietisch aus Edelstahl. Ihre Schultern ruhen auf einem Block aus Polypropylen, der Kopf hängt nach hinten, ihr langes graues Haar ist strähnig und voller Blut. Die Haut an der Brust ist über Kehlkopf und Stimmbänder zurückgeklappt. Nichts steckt in ihrer Luftröhre. Nahaufnahmen der kleinen dreieckigen Stimmbandritze zeigen, dass keine Verstopfung vorliegt.
Auch ein Gegenstand, der so klein ist wie eine Erdnuss, eine Weintraube oder ein Fleischbrocken, kann die Stimmbänder nicht passieren, wenn jemand würgt. Colin hat, den Umständen entsprechend, vor allen anderen Tests sorgfältig nach eingeatmeten Essensresten gesucht. Außerdem fand er den Fall offenbar so wichtig, dass er Überstunden gemacht oder nach Feierabend noch einmal ins Labor gekommen ist, um die Autopsie sofort durchzuführen. Im Protokoll sind Datum und Uhrzeit der Obduktion als 1. März, 21.17 Uhr, vermerkt.
Ich studiere weitere Fotos und halte Ausschau nach Hinweisen, die das bestätigen, was Kathleen Lawler mir über Barrie Lou Rivers’ Tod im Gefängnis erzählt hat. Dann bitte ich Marino um das Einsatzprotokoll der Rettungsmannschaft und die Aussagen des diensthabenden Wachpersonals. Sie bestätigen mir, dass Barrie Lou Rivers kurz vor ihrem Tod ein Thunfischsandwich mit Gewürzgurken auf Roggenbrot gegessen hat. Ihr Mageninhalt bekräftigt das: zweihundert Milliliter unverdaute Nahrung, bestehend aus offenbar fischähnlichen Partikeln, Gewürzgurke, Brot und Kümmel.
Allerdings belegt nichts Kathleens Behauptung, dass Barrie Lou Rivers erstickt ist. Da offenbar niemand lebensrettende Maßnahmen eingeleitet hat, ist es unwahrscheinlich, dass sie das Stück Sandwich in ihrer Luftröhre ausgewürgt hat, was das Fehlen von Essensresten bei der Autopsie erklären würde. Tod durch das Einatmen von Nahrung oder Ersticken wird in keinem offiziellen Bericht vermerkt, aber ich weiß, dass Colin danach gesucht hat. Das erkenne ich anhand der Autopsiefotos.
Danach lese ich einen Bericht, der handschriftliche Anmerkungen enthält. Er hat ihn um zwanzig Uhr sieben verfasst. Die Idee, dass Ersticken die Todesursache gewesen sein könnte, stammt von Tara Grimm. »Barrie Lou hatte offenbar Probleme mit der Atmung«, hat die Gefängnisdirektorin am Telefon zu Colin gesagt, während die Leiche unterwegs in die Gerichtsmedizin war. Sie fügte hinzu, sie habe das zwar nicht selbst beobachtet, doch es sei ihr berichtet worden, Barrie Lou »ringe nach Luft und wirke angespannt«. Die Aufseher hätten das auf ihre Angst zurückgeführt, meinte Tara Grimm zu Colin. »Schließlich sollte sie bald in den Hinrichtungsraum gebracht und vorbereitet werden, und Barrie Lou neigte nun einmal zu Emotionalität und Panikattacken. Inzwischen frage ich mich, ob sie wohl an ihrer Henkersmahlzeit erstickt ist.«
Colin hat sich diese Bemerkungen auf dem Berichtsformular notiert und sorgfältig überprüft, ob Tod durch Ersticken vorlag, als er eine knappe Stunde nach dem Telefonat mit der Direktorin den ersten Einschnitt in Barrie Lou Rivers’ Leiche vornahm. Grimm ist der Autopsie ferngeblieben. Auf der Liste der offiziellen Zeugen, die dabei anwesend waren, listet der Bericht einen Assistenten im Autopsiesaal,
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